Supermacht USA – Flügellahm oder neuer Höhenflug?

Amerika gilt als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Realität nagt aber an diesem Mythos. Ein Resultat davon ist die tiefe politische Spaltung. Joe Biden ist es nicht gelungen, diesen Graben zuzuschütten. Auch wenn der Aktienmarkt etwas anderes suggeriert – Bidens Bilanz nach seinem ersten Jahr als Präsident ist durchzogen. Viele strukturelle Probleme sind ungelöst.

Deutlicher Rückgang aber noch immer über Vorkrisenniveau

Ein Jahr ist es her: Am 20. November 2020 bestätigte die Nachzählung im Bundesstaat Georgia den Sieg des Demokraten Joe Biden bei den Präsidentschaftswahlen und exakt zwei Monate später fand die Inauguration zum 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten statt. Sofern der Aktienmarkt als Massstab für den Erfolg der bisherigen Präsidentschaft gelten kann, sieht die Zwischenbilanz für Joe Biden hervorragend aus: Der S&P 500 Index notiert seit seinem Amtsantritt mit rund 20% im Plus. Allein die Marktkapitalisierung des US-Leitindex betrug Ende Oktober über 40 Billionen US-Dollar, was fast 60% der Gesamtkapitalisierung des Weltaktienindex MSCI World ausmacht. Auch der Greenback hat sich in diesem Jahr gegenüber den meisten Währungen aufgewertet. Sind die USA also unter Joe Biden auf einem neuen Höhenflug?

Der Aufschwung ist primär zyklischer Natur. Arg gebeutelt von der Corona-Pandemie hat sich die Weltwirtschaft wieder deutlich erholt. In den USA halfen massive geld- und fiskalpolitische Unterstützungsmassnahmen. Die US-Notenbank Fed hat die Zinsen im März 2020 auf einen Schlag von 1.75% auf 0.25% gesenkt und die Geldschleusen geöffnet. Die Bilanzsumme verdoppelte sich seither von 4.1 Billionen auf über 8.5 Billionen US-Dollar. Hinzu kamen die staatlichen Hilfen. Während in vielen europäischen Ländern Kurzarbeitsentschädigungen bezahlt wurden, erhöhten die USA die Arbeitslosenunterstützungen. In einem ersten Schritt wurde zu den von den Bundesstaaten geleisteten Beiträgen zusätzlich 600 US-Dollar pro Woche ausbezahlt. Später wurde dieser Zusatzbeitrag auf 300 US-Dollar reduziert. Selbst dies führte zur absurden Situation, dass für gewisse Jobs der erzielbare Lohn tiefer ausfiel als die Arbeitslosenunterstützungen. Damit lässt sich teilweise erklären, warum die Arbeitslosigkeit in den USA (noch) nicht auf das Vorkrisenniveau gesunken ist.

Arbeitslosenrate USA

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Hinzu kamen Corona-Direktzahlungen an weite Teile der Bevölkerung. Gleich dreimal liess die Regierung Geld wie Manna vom Himmel regnen. Die erste Tranche von 1'200 US-Dollar gab es im April 2020, die zweite Zahlung in Höhe von 600 US-Dollar wurde im Dezember 2020 beschlossen und der dritte Check über 1'400 US-Dollar wurde im April 2021 ausbezahlt. De facto handelte es sich bei diesen Zahlungen um Helikoptergeld. Mit der semantischen Nuance, dass die Gelder nicht direkt von der Notenbank ausbezahlt wurden, sondern von der Regierung. Mit dem Aufkauf von Staatsanleihen wurde das Programm aber sehr wohl von ersterer finanziert. Ein Grossteil dieser Massnahmen wurde bereits unter Donald Trump beschlossen (dasselbe gilt für die Operation «Warp Speed» bei der Impfstoffentwicklung) – insofern hält sich der effektive Beitrag Bidens zur zyklischen Konjunkturerholung in engen Grenzen. 

Unrühmlicher Rekord – Die Staatsverschuldung explodiert

Die Kehrseite all dieser Massnahmen ist ein massiver Schuldenanstieg. Die Schuldenquote, also die Staatsschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), ist vom Vorkrisenniveau von 107% auf mittlerweile 137% regelrecht explodiert.

Entwicklung der US-Staatschulden, in Bio. US-Dollar, und Schuldenquote, in % des BIP

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Eine Trendwende zeichnet sich nicht ab. Im Gegenteil: Jüngst hat das von den Demokraten initiierte Infrastrukturprogramm vom US-Kongress grünes Licht erhalten. In den kommenden Jahren werden rund 110 Milliarden US-Dollar in den Ausbau und die Sanierung von Strassen und Brücken fliessen. Rund 39 Milliarden sind für den öffentlichen Nahverkehr eingeplant, weitere 66 Milliarden US-Dollar für das Schienennetz. Auch die Häfen und Flughäfen sollen erneuert werden. Zudem sind Mittel zum Ausbau der Ladestationen für Elektroautos vorgesehen. Deutlich schwieriger dürfte es für das von Joe Biden in Aussicht gestellte Sozial- und Klimapaket «Build Back Better» werden. Das ursprünglich angedachte Paket wurde bereits von 3.5 Billionen auf 1.75 Billionen US-Dollar zusammengestrichen, dürfte es aber im Kongress dennoch schwer haben. Derweil droht Mitte Dezember einmal mehr ein möglicher Zahlungsausfall der Vereinigten Staaten. Die Schuldenobergrenze wurde bereits im Herbst erreicht und auf den letzten Drücker temporär angehoben. 

Um die weitere Finanzierung sicherzustellen, braucht es aber in den nächsten Tagen einen erneuten Budgetbeschluss im Kongress. Obwohl am Ende wohl eine Lösung gefunden wird, die Schuldenproblematik dürfte auch in den nächsten Jahren ein grosses Thema bleiben. Brisant ist die Entwicklung auch deshalb, weil die Inflationszahlen in den USA durch die Decke schiessen. Sollte der Teuerungsdruck anhalten – und dafür spricht einiges –, wird die US-Notenbank eher früher als später reagieren müssen. Höhere Zinsen und steigende Refinanzierungskosten wären die Folge. 

Die Anfangseuphorie ist verschwunden

Bidens Versprechen, die Spaltung in der Bevölkerung zu kitten, konnte der Präsident bislang nicht erfüllen. Die politischen Gräben sind tief, die Polarisierung extrem. Zudem kam der überstürzte Rückzug aus Afghanistan bei der Bevölkerung schlecht an. Anhaltende Corona-Sorgen und die hohen Teuerungsraten belasten die Stimmung zusätzlich. Da erstaunt es wenig, dass auch die Zustimmungswerte für Biden im Sinkflug sind. Lagen diese kurz nach Amtsbeginn noch bei 57%, sind sie mittlerweile auf 42% gefallen.

Zustimmungsraten für Joe Biden

Quellen: Statista, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Keine wesentlichen Änderungen zur Aussenpolitik Trumps gibt es im Handelskonflikt mit China. Auch wenn es Mitte November zu einem Onlinegipfel zwischen Biden und Chinas Staatschef Xi Jinping kam, das Verhältnis der beiden Supermächte bleibt frostig.  

Die Unzufriedenheit mit der Politik des Präsidenten zeigte sich auch in der Niederlage der Demokraten bei der Gouverneurswahl in Virginia. Und dies ausgerechnet im Bundesstaat in unmittelbarer Nachbarschaft zu Washington D.C., in dem Biden vor Jahresfrist noch zehn Prozentpunkte vor Trump lag. Die Wahl galt als Blauphase für die «Mid Term Elections» im Herbst 2022. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass die Demokraten ihre hauchdünne Mehrheit im Senat verlieren werden und auch im Repräsentantenhaus dürfte es zu schmerzlichen Verlusten kommen. Damit droht Joe Biden in seiner zweiten Amtshälfte zu einer «lahmen Ente» zu verkommen. Eine handlungsunfähige Regierung, ein Nachlassen der zyklischen Konjunkturerholung und ein immenser Schuldenberg: Nicht nur Joe Biden, sondern auch die Supermacht USA droht flügellahm zu werden.  

Der CIO erklärt: Was heisst das für Sie als Anleger?

Der US-Aktienmarkt gehört auch in diesem Jahr mit einem Plus von über 20% zu den Gewinnern. Aufgrund des Höhenflugs des US-Dollar kommen für Schweizerfranken-Anleger noch gut 4% Währungsgewinn hinzu. Zu den Überfliegern gehörten einmal mehr die grossen US-Tech-Konzerne. Alphabet (+62%) sowie Microsoft (+48%) trieben den Leitindex von einem Allzeithoch zum Nächsten.

Neben Apple, Alphabet, Microsoft und Amazon schaffte es in diesem Jahr auch Tesla in den «Billionen-Club». Darin befinden sich Aktiengesellschaften mit einem Börsenwert von über einer Billion US-Dollar. Im Vergleich dazu bringt der Nahrungsmittelmulti Nestlé gerade einmal 360 Milliarden US-Dollar auf die Waage. Gehören die Überflieger von gestern auch zu den Gewinnern von morgen? Nicht unbedingt. Die US-Notenbank wird 2022 die Zinsen erhöhen, was vor allem für Wachstumswerte Gegenwind bedeutet. Zudem dürfte das Thema Regulierung und Datenschutz auf der politischen Agenda nach oben rücken. Dem US-Aktienmarkt billigen wir deshalb im kommenden Jahr nur eine unterdurchschnittliche Performance zu. Es dürfte sich also lohnen, bei den Börsenüberfliegern Gewinne zu realisieren. 

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz