Die Mangelwirtschaft – Das Stagflationsgespenst macht die Runde

Lieferengpässe und eine stark gestiegenen Güternachfrage führen zu Knappheit und steigenden Preisen. Eine baldige Entspannung zeichnet sich nicht ab. Der Margendruck auf die Unternehmen nimmt entsprechend zu, die Gewinnentwicklung verliert an Dynamik. Die Sorgen vor einem möglichen Stagflations-Szenario steigen.

Autoproduktion wird ausgebremst – Chipmangel fordert seinen Tribut

Wer heute online ein nigelnagelneues iPhone 13 Pro 5G mit 512 GB Speicherkapazität kaufen will, wird vertröstet: «In Nachbestellung – der Artikel kann momentan nicht geliefert werden» heisst es lapidar. Die Lieferengpässe haben nun also auch bei Apple ihren Tribut gefordert. Das Problem: Es mangelt weltweit an Microchips. Bei Broadcom und Texas Instruments – zwei bedeutenden Halbleiterlieferanten – sind die Lager leergefegt. Apple rechnete noch vor kurzem mit einer Produktion von rund 90 Millionen iPhone 13 Smartphones bis Ende Jahr. Nun könnten es bis zu 10 Millionen weniger werden. Bei einem durchschnittlichen Verkaufspreis von rund 1’000 US-Dollar würden dem Technologiegiganten im wichtigen Weihnachtsquartal somit im schlimmsten Fall bis zu 10 Milliarden Dollar Umsatz wegbrechen. Auch wenn ein Teil davon mit anderen Produkten kompensiert werden kann, ein Loch reisst der Produktionsausfall allemal in das Jahresergebnis. Bereits haben erste Analysten den Rotstift angesetzt und die Umsatz- und Gewinnprognosen für das laufende Jahr gekürzt. 

Das Beispiel von Apple ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: Immer mehr Industrien sind von fehlenden Halbleitern sowie anderen wichtigen Komponenten betroffen und müssen entsprechend ihre Produktion reduzieren oder temporär gar komplett einstellen. Hart getroffen hat es die Automobilindustrie. Viele Werke wurden mittlerweile stillgelegt, die Produktion drastisch gekürzt. Die Zahlen zum dritten Quartal zeigen die Dimensionen: Mercedes-Benz konnte zwischen Juli und September nur 428'361 Autos ausliefern – ein Minus von über 30%. Der Mutterkonzern Daimler dürfte damit in diesem Jahr etwa gleich wenige Fahrzeuge verkaufen wie im Corona-Jahr 2020. 

Autoverkäufe in China, seit Mai 2021

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Auch die Konkurrenten BMW sowie der Volkswagen-Konzern sind gleichermassen betroffen. Seit dem 18. Oktober laufen die Škoda-Werke in Tschechien auf Minimalbetrieb und dies mindestens bis zum Jahresende, bei Audi dasselbe. Die amerikanischen, japanischen und chinesischen Automobilhersteller haben die Produktion ebenfalls gedrosselt. In China sind die Autoverkäufe seit Mai rückläufig und im September gar um 16.2% abgesackt. Eine Trendwende der Misere zeichnet sich nicht ab. Im Gegenteil: Der drittgrösste Halbleiterhersteller der Welt, Taiwan Semiconductor Manufacturing (TSMC), rechnet mit Lieferengpässen bis weit ins Jahr 2022 und möglicherweise gar darüber hinaus. 

Steigende Agrarrohstoffpreise führen zu höheren Lebensmittelkosten

Knappheit erhöht die Preise, nicht nur bei Computerchips. Aufgrund der stark wachsenden Nachfrage sind auch die Rohstoffpreise kräftig angestiegen. Auch hier werden die Auswirkungen der ausgeprägten V-förmigen Konjunkturentwicklung deutlich. Im Zuge der Corona-Pandemie und des historischen Wirtschaftseinbruchs wurden vielerorts die Kapazitäten und Investitionen drastisch reduziert. Die überraschend schnelle Konjunkturerholung hat nun viele Firmen auf dem falschen Fuss erwischt – und zu Angebotslücken geführt. Ganz nach Lehrbuch und dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgend ziehen nun die Preise kräftig an.

Preisentwicklung seit Jahresbeginn von Kaffee, Zucker und Weizen, indexiert

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Der Erdgaspreis notiert seit Jahresbeginn um über 300% höher. Aluminium kostet 60% mehr und beim Kupfer sowie Stahl beträgt der Preisanstieg immerhin einen Drittel. Als wäre dem nicht genug, sind auch diverse Grundnahrungsmittelpreise stark angestiegen: Kaffeebohnen kosten 58% mehr als zu Jahresbeginn. Und wer seinen Kaffee gerne gesüsst trinkt, muss ebenfalls tiefer in die Tasche greifen: Der Zuckerpreis liegt um einen Viertel höher als Anfang Jahr. Nahrungsmittelkonzerne wie Danone oder Nestlé haben begonnen, die steigenden Inputkosten via Preiserhöhungen an die Endkonsumenten weiterzugeben. 

Nichts von «transitory» – Inflation in den USA über 5%

Auch andere Materialien wie Holz oder Papier sind derzeit Mangelware. Zwischen März und Mai 2021 hat sich der Holzpreis sprunghaft nach oben bewegt und so die Bautätigkeiten gebremst. Mittlerweile hat sich die Preisentwicklung zwar wieder beruhigt, für Holz bezahlt man aber immer noch fast doppelt so viel wie vor der Corona-Pandemie. Auch Papier ist knapp. Der Papierhersteller Essity hat in einer ersten Runde im Frühling bereits eine Preiserhöhung von 5% durchgesetzt. Momentan laufen die Verhandlungen mit den Detailhändlern für eine weitere Anpassung nach oben. Windeln, Papiertaschentücher und WC-Papier dürften also demnächst noch mehr kosten. 

All diese Faktoren schlagen sich in steigenden und hartnäckig hohen Inflationszahlen nieder. Zwar erklärt der Chef der US-Notenbank Fed, Jerome Powell, seit Monaten gebetsmühlenartig, dass der Teuerungsanstieg in den USA nur ein vorübergehendes Phänomen sei, doch seit Monaten liegt er damit falsch. Im September notierte die Inflation mit 5.4% zum fünften Mal hintereinander über der 5%-Grenze. 

Konsumentenpreisentwicklung (CPI) in den USA

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Aufgrund der anhaltenden Lieferengpässe sowie steigender Rohstoff- und Energiepreise zeichnet sich keine Trendwende ab. Denn nicht nur die Konsumentenpreise bewegen sich nach oben, sondern auch die vorgelagerten Produzentenpreise gehen durch die Decke. So stiegen die Erzeugerpreise in China im September um satte 10.7%. Diese werden sich zwangsläufig in den Gewinnmargen vieler Unternehmen bemerkbar machen. Nur wenige Firmen sind in der Lage, die höheren Kosten 1:1 an die Konsumenten weiterzugeben.  

Und so häufen sich zuletzt auch die Gewinnwarnungen auf der Unternehmensseite. Der Logistiker FedEx war einer der ersten, der aufgrund von Mitarbeitermangel und daraus resultierenden höheren Lohnkosten die Prognosen kassieren musste. Philips, der niederländische Medizinaltechnologiekonzern, folgte Mitte Oktober. Aufgrund steigender Lohnkosten sowie anhaltender Lieferengpässe schraubte das Management die Jahresprognosen nach unten. Weitere werden folgen, denn der Druck auf die Gewinnmargen nimmt zu.

Für Anlegerinnen und Anleger sind dies wenig erfreuliche Neuigkeiten, denn letztlich ist die Gewinnentwicklung einer der Haupttreiber für die Aktienmärkte. Die Brötchen werden in den kommenden Quartalen also zunehmend kleiner gebacken. 

Kleiner dürfte auch das Warenangebot um die Weihnachtszeit in den Läden sein. Und für ein neues iPhone 13 oder die neusten Nike Sneakers als Weihnachtsgeschenk dürfte es ebenfalls knapp werden. Allerdings stellen sich Konsumenten anlässlich dieser Entwicklung womöglich auch die Frage, ob gerade angesichts des Klimawandels und der zunehmenden Ressourcenknappheit tatsächlich jedes Jahr ein neues Smartphone unter dem Weihnachtsbaum liegen muss. Schliesslich ist Weihnachten nicht das Fest der Geschenke, sondern das der Liebe.

Der CIO erklärt: Was heisst das für Sie als Anleger?

Stagflation. Ein Wort macht die Runde. Schwaches Wachstum gepaart mit hartnäckig hoher Inflation wäre ein äusserst anspruchsvolles Umfeld für Anlegerinnen und Anleger. Die anhaltenden Lieferengpässe und die sprunghaft angestiegene Güternachfrage heizen die Inflation an. Rohstoff- und Konsumgüterpreise steigen ungebremst – von «transitory», also vorübergehend, wie es uns US-Notenbankchef Jerome Powell weismachen will, keine Spur. Gleichzeitig schwächt sich die globale Konjunktur, ausgehend von China, merklich ab. In einem stagflationären Umfeld gehören diejenigen Unternehmen zu den Gewinnern, welche über Preissetzungsmacht verfügen und steigende Inputpreise weitergeben können.

Solche defensive Qualitätstitel findet man vor allem im Nahrungsmittel- und im Konsumgütersektor. Nicht zuletzt deshalb präferieren wir aktuell den Schweizer Aktienmarkt. Gold gilt ebenfalls als klassischer Stagflationsprofiteur. Bei nominalen Anlagen wird es hingegen anspruchsvoll. Den besten Schutz bieten inflationsgeschützte Anleihen. Alternativ kann auch eine temporär etwas erhöhte Liquidität Sinn machen, um Einstiegschancen in einem volatileren Umfeld nutzen zu können. Unsere aktuelle taktische Vermögensallokation reflektiert die erhöhten Stagflationsrisiken.   

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz