

Wohnortswahl = rational?
Während Frau und Tochter seit dem Umzug aus der Stadt richtig aufblühten, nimmt der Mann das tägliche Pendeln zur Arbeit in Kauf. Ist die Wohnortswahl wirklich ein rationaler Entscheid? Erfahren Sie mehr darüber in der Wohnfrage Oktober.
Das idyllische Leben auf dem Land
Bekannte von mir leben seit kurzem auf dem Land. Idylle pur, fast schon kitschig. Sie geniessen ungetrübte Bergsicht, ihr Haus steht nahe am Waldrand, ist ruhig und abgeschieden gelegen und durch den Garten fliesst ein kleines Bächlein, das einen Naturteich speist. Platz hat es zu Genüge für das jüngere Paar mit ihrem Kind. Als wir sie neulich besuchten, zeigte mir der Hausherr seine neuste Errungenschaft, eine Aussensauna. Seine Schwiegereltern seien oft zu Besuch und die seien passionierte Saunagänger. Nur einen Haken habe das Idyll, die tägliche Pendlerei gehe ihm schon auf den Keks. Und er müsse morgens spätestens um 5.45 abfahren, um nicht in den Stau zu kommen. So schaffe er es in 45 Minuten ins Büro. Er sei aber wiederholt auch schon weit über eine Stunde lang unterwegs gewesen. Letztlich sei es ein Vernunftentscheid gewesen. Frau und Tochter blühten richtig auf, seit sie aus der Stadt gezogen seien, unterm Strich gehe es der Familie hier klar besser. Dafür müsse er halt ein paar Abstriche machen.
Idyllisches Leben auf dem Lande
Ökonomisch rationales Handeln
Das ist ökonomisch absolut rational. Gestreng dem mikroökonomischen Lehrbuch wird der Gesamtnutzen der Familie optimiert, dafür allerdings in Kauf genommen, dass ein Familienmitglied massiv schlechter fährt als vor dem Wohnortwechsel. Wie aber will man messen, ob die höhere Zufriedenheit der zwei Frauen im Haushalt das mühsame Pendeln des Vaters auch tatsächlich aufwiegt? Die Ökonomie hat dazu keine passende Antwort, aber man weiss dafür etwas anderes, ebenso Überraschendes. Nur in armen Ländern steigt die Lebenszufriedenheit mit steigendem Einkommen. Oberhalb eine Existenzminimums ist Geld nicht mehr wichtig, um Dinge zu kaufen, sondern weil es unseren Status bestimmt, den wir in der Gesellschaft einnehmen. Eine rein monetär orientierte Wohnortswahl macht uns demnach nicht zwingend zufriedener. Wohin sie makroökonomisch führt ist klar: Das Volk pendelt, immer mehr, immer länger, weil auf dem Land der Wohnraum noch einigermassen tragbar und erschwinglich ist. Dabei müsste es exakt umgekehrt sein, wäre die familienaggregierte Optimierung der Wohnsituation der Einkommenssituation und den Präferenzen angemessen. Pendeln würden nur noch zwei Kategorien von Haushalten. „Reiche“, welche die Ersparnis im Steuerparadies höher gewichten als die Pendelzeit und „Arme“, die in den Zentren keinen erschwinglichen Wohnraum finden und an den Rand der Stadt gedrängt werden.
Fragen Sie den Chefökonom
Über den Autor
Martin Neff, der Chefökonom von Raiffeisen
Martin Neff gehört zu den führenden Immobilienexperten in der Schweiz. Er ist seit Anfang 2013 bei Raiffeisen Schweiz. Neff studierte Volkswirtschaft an der Universität Konstanz. Von 1988 bis 1992 arbeitete er beim Schweizerischen Baumeisterverband (SBV) in Zürich, bevor er in die CS eintrat, dort das «Schweiz Research» aufbaute und seit 2008 Chefökonom war.