Wohlstand messen?

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Ausgabe 12.02.2020 – Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen

Martin Neff - Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft
Martin Neff – Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft

Wie geht es Ihnen heute? Und wie ging es Ihnen Anfang 2018 und Ende 2018? Besser als 2017? Gar nicht so einfach, auf Anhieb eine Antwort darauf zu finden, nicht? Natürlich erinnern Sie sich noch an das Jahr 2018, so lange ist das ja auch noch nicht her. Aber wissen Sie auch noch, dass 2018 ein ganz besonderer Wirtschaftsjahrgang war für die Schweiz?

Es war das zweitbeste Jahr in zehn Jahren, wenn man die Wachstumsrate des Bruttoinlandproduktes zu Rate zieht. Und zwar nicht nur die absolute Zahl, sondern vor allem die Pro-Kopf. Die noch provisorischen Werte der offiziellen Statistik legen ein Wachstum von 2,2 % nahe. Nur 2010 lag dieser Wert geringfügig darüber (2,3 %), allerdings nur auf Grund des Basiseffektes nach einem massiven Rückschlag 2009. In allen anderen Jahren herrschte mehr oder weniger Stagnation. Wenn ich nun also frage, ob das Jahr 2018 wirtschaftlich gesehen für Sie ein besonderes gewesen sei, dann müssen die meisten unter Ihnen erst mal nachdenken, um dann aber einzugestehen, sie wüssten das gar nicht mehr so genau. Dabei kann man statistisch davon ausgehen, dass die meisten 2018 ein klein bisschen Wohlstand dazugewonnen haben. Wohlstand gemessen in Geld notabene.

Wenn die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer auch ein ausserordentlich gutes Wirtschaftsjahr wie 2018 nicht mehr richtig spürt, sagt dies im Grunde mehr aus über den Wohlstand hierzulande als die Wachstumsrate von 2,2 %. Dieser Wohlstand ist offenbar auf einem Niveau angelangt, der so nahe bei der Sättigungsgrenze liegt, dass weitere, auch überdurchschnittliche Steigerungen nicht mehr gross wahrgenommen werden. Das sind eigentlich selbstredend gute Neuigkeiten. Und doch dreht sich in der Wirtschaft unverändert fast alles nur ums (quantitative) Wachstum. Selbstverständlich fällt bei Durchschnittsbetrachtungen unter den Tisch, dass es eine breite Streuung gibt. So haben manche 2018 Einkommenseinbussen erlitten und andere wiederum grössere Einkommenssprünge verzeichnet. Und es macht natürlich auch einen Unterschied, von welchem Niveau aus man rechnet, aber nochmal: der Schweiz geht es offenbar sehr, sehr gut. So gut, dass wir unseren Wohlstand längst nicht mehr nur nach materiellen Dingen beurteilen und geringe Schwankungen unserer Einkommen gar nicht mehr gross auffallen.

Ökonomisch ist Sättigung dann erreicht, wenn wir aus Mehrkonsum keinen Nutzen mehr ziehen – oder sogar Schaden. Gut lässt sich dieses Konzept an Alkohol erläutern. Ein Glas Wein stiftet zweifellos Nutzen, wenn man gern Wein trinkt. Mit zunehmendem Weinkonsum nimmt der Zusatznutzen oder Grenznutzen aber ab. Theoretisch verhalte ich mich ökonomisch rational, wenn ich maximal so lange trinke, bis der Grenznutzen einer zusätzlich konsumierten Menge Wein Null beträgt. Würde ich mehr trinken, würde mir schlecht, der Grenznutzen folglich negativ und damit der Gesamtnutzen geschmälert. Dieses Grenznutzenkonzept ist auch die Basis für die Optimierung unseres Warenkorbs. Wir konsumieren von allem so viel, bis wir auch durch Mehrkonsum eines Gutes oder einer Dienstleistung insgesamt keinen zusätzlichen Nutzen mehr schöpfen werden. Da Menschen verschiedene Präferenzen haben, konsumieren sie auch unterschiedliche Warenkörbe. Auch der Entscheidung, ob wir konsumieren oder sparen, liegen Präferenzen und daraus abgeleitete Grenznutzenüberlegungen zu Grunde. Dasselbe trifft zu, wenn wir vor der Wahl zwischen Arbeit und Freizeit stehen.

Natürlich verhalten wir uns im wahren Leben nicht so rational, wie uns Lehrbücher der Volkswirtschaftslehre nahe legen, und die Mikroökonomie arbeitet mit teils weltfremden Annahmen zu unserem Konsumverhalten. Aber das Konzept der Sättigung ist vor allem aus aggregierter Sicht – im Sinne Kollektiv und nicht Individuum – einigermassen überzeugend. Gut nachvollziehbar wird es in einem Land wie dem unseren, das in allen internationalen Vergleichen des monetär gemessenen Wohlstands in der obersten Liga rangiert, egal ob beim Einkommen, beim Vermögen oder der Kaufkraft. So weit oben wie gesagt, dass ausserordentliche Einkommenszuwächse wie der im Jahr 2018 mehrheitlich nicht mal mehr wahrgenommen werden.

Die Schweiz ist aber nicht nur eine Insel der Satten sondern auch der Glückseligen. Gemäss «World Happiness Report» belegt die Schweiz den sechsten Rang der Liste der glücklichsten Länder der Welt. Geld allein mag zwar gemäss Sprichwort nicht glücklich zu machen, aber materieller Wohlstand und Glück scheinen zumindest positiv korreliert sein. Je satter aber ein Land, desto weniger spielt Geld für das empfundene Glück eine Rolle. Das sieht man hierzulande deutlicher denn anderswo. Nach den persönlichen Hoffnungen für 2019 befragt, lag diejenige nach mehr Geld auf dem letzten Rang. Mehr Sex oder mehr romantische Erlebnisse kamen fast auf dieselben Werte wie mehr Geld und mehr Freizeit sowieso. Ganz zuoberst rangierten die persönliche Gesundheit, eine glückliche Ehe, Familie oder Partnerschaft. Man kann daraus ableiten, dass der Grenznutzen des Geldes sich in der Schweiz sehr nahe bei null bewegt. Dafür rücken immaterielle Werte in den Vordergrund, Dinge ausserhalb des individuellen Warenkorbs. Die Gesundheit eben oder die Familie, die Lebenserwartung, das Sicherheitsempfinden, die Meinungsfreiheit, das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen, die intakte Umwelt, die gut funktionierende Infrastruktur oder ähnliches. Schweizer und Schweizerinnen erhoffen sich lieber mehr Harmonie im Leben, mehr gute und vertrauensvolle Beziehungen, mehr Spass mit Freunden oder mehr sinnvolle und zufriedenstellende Aufgaben als mehr Geld. Wir müssten demnach wirtschaftlichen Erfolg besser nach dem individuellen Glück anstatt dem Prokopfeinkommen einstufen. Und doch messen wir munter weiter und rechnen periodisch wiederkehrend aus, ob’s mehr oder weniger war. Dabei merken wir nicht mal einen Unterschied. Ein wahrlich veraltetes Wohlstandskonzept. Wann kommt endlich ein nationaler Glücksindex? Ich hätte da ein sehr einfaches Konzept zur Hand – günstiger als jede volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, erst noch genauer und aktueller sowieso. Nur mit einer jährlich wiederkehrenden Frage, die lautet: «Wie glücklich sind sie heute?» Das Resultat wäre das Bruttonationalglück, das auch immaterielle Werte miteinbezöge anstatt nur die Sattheit weiterzumessen.

Die kommenden zwei Wochen sättige ich mein Bedürfnis nach frischer Bergluft. Sie lesen in der ersten Märzwoche wieder von mir.