Eine turbulente Halbzeit – Die Weltwirtschaft in Schieflage

Wir blicken auf ein sehr volatiles erstes Halbjahr zurück. Nach einem starken Start kamen die Märkte in Folge der Corona-Krise massiv unter Druck. Dank dem beherzten Eingreifen der Notenbanken und Staaten konnten sich die Finanzmärkte aber von den März-Tiefst wieder deutlich erholen. Die Diskrepanz zwischen den Fundamentaldaten und den Aktienkursen ist frappant.

Volatiles erstes Halbjahr – Vergleichbar mit der Finanzkrise 2008

«Wir rechnen mit einem anspruchsvollen und volatilen Börsenjahr, welches einmal mehr von politischen Unsicherheiten geprägt sein wird.» So lautete unsere Zusammenfassung zum Ausblick 2020 (Anlageguide vom Januar). Und in der Tat: Volatil ging es zu und her im ersten Halbjahr. Der Chicago Board Options Exchange Volatility Index (kurz: VIX), welcher die erwartete Schwankung des amerikanischen Leitindex S&P 500 misst, ist im März von 15 auf 82 Zähler hochgeschnellt. Ein vergleichbares Niveau wurde zuletzt auf dem Höhepunkt der Finanz- und Bankenkrise im Oktober 2008 erreicht. Obwohl wir also mit einem Anstieg der Volatilität gerechnet hatten, wurden wir vom Ausmass überrascht. Und vor allem hatten wir etwas nicht auf dem Radar: Das Coronavirus. 

Chicago Board Options Exchange Volatility Index (VIX)

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Im Dezember 2019 wurde in der Stadt Wuhan eine Häufung schwerer Lungenentzündungen mit unbekannter Ursache festgestellt. Kurz vor Jahresende informierte der chinesische Arzt Li Wenliang in einer Chat-Gruppe seine Arztkollegen über mehrere Patienten, die im Zentralkrankenhaus Wuhan behandelt wurden. Ihre Symptome liessen auf eine Infektion mit dem bereits bekannten SARS-Virus schliessen. Li Wenliang erkrankte später selbst und starb an den Folgen von COVID-19. Am 31. Dezember 2019 wurde das China-Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch die chinesischen Behörden offiziell darüber informiert, dass im vergangenen Monat in Wuhan mehrere Personen an einer schweren Lungenentzündung erkrankt sind. Da mehrere Erkrankte auf dem örtlichen «Nassmarkt» (wet market) als Verkäufer oder Händler arbeiteten, wurde dort der primäre Infektionsherd vermutet.

Am 7. Januar 2020 gab der mit der Virusidentifizierung beauftragte leitende chinesische Virologe bekannt, dass es sich bei dem Krankheitserreger um ein bis dahin unbekanntes Coronavirus handle. In einer Stellungnahme der WHO am 9. Januar 2020 wurde diese Erkenntnis bestätigt. Danach dauerte es bis zum 11. März 2020 bis die WHO SARS-CoV-2 als Pandemie einstufte. Die weitere Entwicklung und geografische Ausbreitung von Osten gegen Westen konnten wir hautnah mitverfolgen. Mittlerweile haben sich nach offiziellen Angaben weit über 10 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert – und über 500'000 sind an COVID-19 gestorben. 

Halbjahresbilanz – Für einmal mit mehrheitlich negativen Vorzeichen

Nachdem sich die Finanzmärkte bis Mitte Februar 2020 von diesen Entwicklungen ziemlich unbeeindruckt zeigten und teilweise neue Höchststände erreichten, folgte danach ein dramatischer Einbruch. Unter den Anlegern machte sich zunehmend Panik breit. Die Aktienmärkte brachen zeitweise um 30 bis 40 % ein. Auch Hochzins- und Schwellenländeranleihen verloren massiv an Wert. Zur Ungewissheit um die gesundheitlichen Folgen der Corona-Pandemie kamen auch handfeste wirtschaftliche Sorgen hinzu. Die von vielen Staaten verhängten Schliessungen ganzer Wirtschaftszweige brachten einen kurzzeitigen Totalstillstand der wirtschaftlichen Tätigkeiten mit sich. Im soeben zu Ende gegangenen zweiten Quartal dürfte das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) deshalb im zweistelligen Bereich eingebrochen sein: Dies entspricht einem historischen Ereignis. Trotz dieser Entwicklung konnten sich die Finanzmärkte in den vergangenen Wochen wieder deutlich erholen. Angesichts der dramatischen konjunkturellen Auswirkungen der Pandemie sieht die Halbjahresbilanz an den Börsen deshalb erstaunlicherweise relativ erfreulich aus.

Performance der Anlageklassen in Schweizer Franken

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Der Grund für die Stimmungsaufhellung an den Märkten liegt (einmal mehr) bei den Notenbanken, welche Billionen in die Märkte pumpen. Hinzu kommen massive fiskalpolitische Rettungsmassnahmen der Staaten rund um den Globus. Bis dato wurden weltweit mehr als 11'000 Milliarden US-Dollar an direkten und indirekten (beispielsweise Kreditgarantien) Fiskalmassnahmen beschlossen. Dies entspricht rund 13 % der weltweiten jährlichen Wirtschaftsleistung. Die Hoffnung der Anleger beruht letztlich darauf, dass all diese Stimulusprogramme der Weltkonjunktur rasch wieder auf die Beine helfen und somit die Corona-Pandemie im Rückspiegel bloss als eine kurze Episode erscheinen wird. Was diese Haltung anbelangt, mahnen wir allerdings zur Vorsicht. Zwar können die verschiedenen Hilfspakete einen Teil der konjunkturellen Einbussen kompensieren, diese gibt es allerdings nicht «gratis». Ende Jahr wird der globale Schuldenberg einen neuen Rekord erreicht haben.

Neben der Staatsverschuldung steigt auch die Verschuldung bei den Unternehmen massiv an. Diese Entwicklung hat verschiedene negative Konsequenzen: Erstens steigen dadurch die (Re-)Finanzierungskosten, was einen negativen Einfluss auf die Gewinnmargen haben wird und zweitens reduziert dies den Spielraum für künftige Investitionen. In der Folge verringert sich damit das langfristige «Potenzialwachstum» der Volkswirtschaften. Selbst im sehr optimistischen Fall, dass eine zweite Infektionswelle mit dem Coronavirus im Herbst ausbleibt, werden die Folgen der Pandemie noch sehr lange nachwirken. 

Für die zweite Jahreshälfte rechnen wir mit einer anhaltend hohen Volatilität an den Finanzmärkten. Die vor der Türe stehenden Halbjahresabschlüsse der Unternehmen dürften zudem für eine gewisse Ernüchterung sorgen. Auch die konjunkturellen Daten werden kaum eine rasche und nachhaltige Erholung anzeigen. Im Gegenteil: Wir gehen davon aus, dass die Arbeitslosenzahlen in den kommenden Monaten kontinuierlich ansteigen werden. Anlagetaktisch bleiben wir deshalb leicht defensiv positioniert. Wir haben zuletzt unsere Gewichtung bei diversen risikobehafteten Segmenten wie Hochzins- und Schwellenländeranleihen abgebaut und auch die Aktienquote Anfang Juni moderat reduziert. Übergewichtet bleiben wir dafür bei Schweizer Immobilienfonds und Gold. Zudem halten wir in den Portfolios momentan eine erhöhte Liquiditätsreserve. So oder so ist aber weiterhin eine breite Diversifikation angezeigt.

Der CIO erklärt: Was heisst das für Sie als Anleger?

Aus den Entwicklungen rund um die Corona-Krise können die Anlegerinnen und Anleger diverse Schlüsse ziehen. Erstens können exogene Schocks immer wieder auftreten und sie sind per Definition nicht prognostizierbar. Zweitens sind Aktien zwar in der langen Frist die mit Abstand attraktivste Anlageklasse, aber eben auch die volatilste. Drittens lohnt es sich auch in Krisensituationen unbeirrt an der einmal festgelegten Anlagestrategie festzuhalten.

Denn wer während der Panikphase im März im grossen Stil risikobehaftete Anlagen verkauft hat, konnte von der starken Gegenbewegung nicht (mehr) profitieren. Und zu guter Letzt hat die Krise einmal mehr die grosse Bedeutung einer breiten Diversifikation aufgezeigt: Gold notiert seit Jahresanfang mit fast 14 % im Plus, aber auch qualitativ hochstehende (Staats-)Anleihen haben – trotz den unattraktiven Verfallrenditen – zur Stabilität im Portfoliokontext beigetragen.

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz