Abwarten und Tee trinken? – Die unendliche «Brexit»-Saga

Der «Brexit» hält die Finanzmärkte seit gut drei Jahren in Atem, und eine klare Lösung zeichnet sich noch immer nicht ab. Die anhaltenden Unsicherheiten haben bereits Spuren hinterlassen. Die Wirtschaft im Königreich hat sich deutlich abgeschwächt und würde im Falle eines ungeordneten «Brexit» unweigerlich in eine Rezession fallen. Im globalen Kontext halten sich die negativen Auswirkungen aus unserer Sicht aber in Grenzen.

Die Nr. 5 der grössten Volkswirtschaften der Welt

Am 23. Juni 2016 sprachen sich knapp 52% der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) aus. Seither wurde viel diskutiert, verhandelt, abgestimmt und ein neuer Premierminister gewählt – konkret passiert ist aber bis heute: nichts. Und obwohl der neue Premierminister Boris Johnson bei seinem Amtsantritt versprochen hat, den «Brexit» bis zum 31. Oktober definitiv zu vollziehen – und zwar mit oder ohne Abkommen – zeichnet sich mittlerweile ab, dass die «Brexit»-Saga wohl nochmals in die Verlängerung gehen wird.

Das Ganze ähnelt mittlerweile eher einer Tragikomödie als einem durchdachten demokratischen (Austritts-)Prozess und der Ausgang ist nach wie vor völlig ungewiss. Die Optionen sind vielfältig: Austritt mit bestehendem Abkommen, Neuverhandlungen über den Austrittsvertrag, harter «Brexit», nochmalige Volksabstimmung oder Neuwahlen stehen unter anderem zur Debatte.

Bruttoinlandsprodukt 2018 in Billionen US-Dollar

Quellen: Statista, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Was letztlich der Ausgang sein wird ist weiterhin spekulativ und eine seriöse Prognose ist schlicht nicht möglich. Entscheidend ist aber die Frage: Ist dies überhaupt relevant? Und wenn ja, für wen?

Um diese Frage zu beantworten lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die Bedeutung und Vernetzung der britischen Volkswirtschaft zu werfen. Grossbritannien gehört mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2'828 Milliarden US-Dollar zu den grössten Volkswirtschaften der Welt und rangiert aktuell auf dem fünften Platz. Dicht gefolgt wird Grossbritannien von Frankreich und Indien, welche wohl demnächst am Königreich vorbeiziehen werden. Im Vergleich dazu belief sich das BIP in der Schweiz im vergangenen Jahr auf rund 704 Milliarden US-Dollar, was ziemlich genau einem Viertel der britischen Wirtschaftsleistung entspricht. Insofern ist Grossbritannien wirtschaftlich betrachtet durchaus ein relevanter «Spieler» auf der Weltbühne.

Abhängig vom Ausland – Grossbritanniens konstantes Handelsdefizit

Spannend ist auch ein Blick auf die Handelsbilanz: Grossbritannien weist ein konstantes Handelsbilanzdefizit auf, welches sich zuletzt auf fast 188 Milliarden USD belief. Das heisst konkret, dass das Königreich deutlich mehr Güter importiert als exportiert.

Was die Importe anbelangt ist Deutschland der mit Abstand wichtigste Handelspartner, gefolgt von China und den USA. Umgekehrt sind die USA der wichtigste Exportmarkt für britische Produkte. Die Ausfuhren nach Nordamerika (inkl. Kanada) beliefen sich im vergangenen Jahr auf 74.5 Milliarden US-Dollar. Insgesamt gingen 47% aller Exporte in die EU und entsprechende 53% in alle übrigen Länder. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die EU nicht bereit ist den Austrittsvertrag nachzuverhandeln – denn basierend auf dem Handelsbilanzsaldo dürfte die EU im Falle eines harten «Brexit» ebenfalls zu den Verlierern gehören. Aktuell scheint allerdings vor allem Grossbritannien die Zeche für die ungelöste Situation und die latenten Unsicherheiten zu bezahlen.

Entwicklung des Handelsdefizits (Exporte minus Importe) in Milliarden US-Dollar

Quellen: Statista, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Beschleunigte Talfahrt – Vorlaufindikatoren zeigen nach unten

Die Entwicklung der wirtschaftlichen Stimmungsindikatoren zeigen im Königreich seit Mitte 2017 nach unten, wobei sich der negative Trend zuletzt gar noch beschleunigt hat. Viele Firmen halten ihre Investitionen zurück oder haben bereits mit (Produktions-)Standortverlagerungen begonnen. Neben der Industrie ist auch die sehr bedeutende Finanzindustrie stark betroffen. Gemäss Schätzungen von Goldman Sachs hat die Unsicherheit seit der Abstimmung über den EU-Austritt die britische Wirtschaft rund 2.6% an Wachstum gekostet. Konkret beläuft sich die Rechnung damit bis dato auf rund 73.5 Milliarden US-Dollar.

Aufgrund der Unsicherheiten hat sich die Wirtschaft im Königreich also bereits deutlich abgeschwächt und gemäss neusten Schätzungen der britischen Handelskammer dürfte das BIP-Wachstum im 2020 noch gerade einmal 0.8% betragen. Diese Schätzung basiert allerdings auf einem geordneten «Brexit». Im «Worst Case» sieht das Szenario deutlich düsterer aus: Ohne Abkommen wird der Wirtschaft in Grossbritannien eine schmerzhafte Rezession bevorstehen. Schätzungen zu Folge könnte die Wirtschaft um bis zu 4% schrumpfen.

Economic Sentiment Index für Europa und Grossbritannien

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Britisches Pfund preist harten «Brexit» teilweise ein. Entwicklung Britisches Pfund zum Schweizer Franken

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Spüren würden dies auch die Anleger – der Aktienmarkt in England und auch das britische Pfund würden in diesem Szenario deutlich an Wert einbüssen. Für die EU wären die Nettoeffekte ebenfalls negativ. Ein ungeordneter «Brexit» könnte auch auf dem europäischen Festland kurzfristig zwischen 0.2% – 0.4% an Wachstum kosten. Global betrachtet muss das Ganze dann allerdings deutlich relativiert werden. Selbst im schlimmsten Fall würde der «Brexit» das globale Wachstum wohl um nicht mehr als 0.1% bis 0.2% beeinträchtigen.

Die «Brexit»-Saga wird uns so oder so noch einige Zeit beschäftigen. Die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft halten sich aber selbst im schlimmsten Fall in relativ überschaubaren Grenzen. Entscheidender für die globale Konjunktur scheint uns aktuell die weitere Entwicklung im Handelskonflikt zu sein. Bezogen auf den «Brexit» heisst es für Anleger also vorerst: «Abwarten und Tee trinken».

Der CIO erklärt: Was heisst das für die Schweiz?

Für die Schweiz ist Grossbritannien ein wichtiger Handelspartner. Im vergangenen Jahr beliefen sich die Exporte ins Vereinigte Königreich auf rund 8.8 Milliarden Schweizer Franken. Importiert wurden umgekehrt Waren im Wert von 7.8 Milliarden. Die Direktinvestitionen von Schweizer Unternehmen belaufen sich auf gut 51 Milliarden Franken. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern werden heute im Rahmen der bilateralen Abkommen mit der Europäischen Union (EU) geregelt. Um ein geordnetes Verhältnis über einen möglichen «Brexit» hinaus sicherzustellen, haben die Schweiz und Grossbritannien in diesem Jahr mehrere bilaterale Abkommen abgeschlossen. Damit ist ein weitgehend friktionsloses Weiterführen der Beziehungen mit dem Königreich auch nach einem EU-Austritt sichergestellt. Dieses Beispiel zeigt die Stärken und Flexibilität der Schweiz. Aufgrund der Unabhängigkeit können jederzeit bilaterale Abkommen und Verträge mit anderen Staaten abgeschlossen werden und so die Interessen der Wirtschaft und der Bevölkerung optimal wahrgenommen werden.

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz