Wandelprediger

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Ausgabe 10.04.2019 – Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen

Martin Neff - Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft
Martin Neff – Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft

Ich war irgendwie schon immer ein Industriefan. Da wird schliesslich noch etwas produziert, das man nicht nur sehen sondern auch anfassen kann. Etwas, das einem nach dem Erwerb direkten und unmittelbaren Nutzen stiftet, nicht selten sogar Emotionen freisetzt. Manche (Männer) sind bekanntlich völlig aus dem Häuschen, wenn sie sich ihr neues Auto vorstellen. Eine Armbanduhr kann Euphorie hervorrufen, genauso wie Designerunterwäsche, modische Klamotten oder meinetwegen auch ein Handy. Nicht zu vergessen ein gutes Mahl, von Hand und mit Liebe gezaubert. Und wenn man einen Nagel mit dem Hammer in die Wand schlägt, sonst wie rumwerkelt oder den Rasen mäht, dann sieht man danach eins zu eins, was man getan hat. Ein solches Gefühl vermittelt mir keine Beratung.

Ich arbeite dennoch seit Jahrzehnten im Dienstleistungssektor, so wie die Mehrheit der Bevölkerung hierzulande auch. Zweimal jobbte ich u.a. während der Semesterferien in der Industrie. Ich war für einen Studenten damals sensationell hoch bezahlt, erspare Ihnen aber lieber die Details meiner Tätigkeiten, die wohl auch der Grund für die tolle Bezahlung waren. Nur so viel: sie waren das Gegenteil von sauber und ruhig. Die Vorstellung, eine solche Arbeit ein ganzes Leben lang zu verrichten, war Grund genug, mich für einen Job im Büro zu entscheiden. Der versprach doch etwas mehr «Convenience» und erst noch etwas Abwechslung im Vergleich zu einer Werkbank. Banking lag da natürlich besonders nahe. Das war damals extrem en vogue. Fast schon unverschämt gut bezahlt, imageträchtige Kulisse, hohes gesellschaftliches Ansehen und diverse Jobbereicherungen jeder Art, all dies machte die Banken einst zu unschlagbaren Konkurrenten im sogenannten Krieg um Talente. «Director» auf seiner Visitenkarte einer Bank und vermeintlich war man ein gemachter Mann so die Devise damals. Nur die Unternehmensberatungen standen zum Beginn meiner Berufslaufbahn noch höher im Kurs der Diskussionen über seine Zukunft in der Mensa. Klar musste man folglich Wirtschaft studieren oder Jura. Da winkte einem schliesslich das grosse Geld, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.

 

Industrieland Schweiz

Geld gegen Ware, das gibt es heute bekanntlich immer weniger. Heute konsumieren wir viel mehr Dienstleistungen als Waren. Von einem Happening, das uns das Shopping wenigstens verspricht, ist bei dieser Art des Konsums aber weniger die Rede, von wegen Kaufrausch. Wer fühlt sich auch schon berauscht, wenn er die Steuern und Versicherungsprämien einbezahlt hat, beim Notar war oder in der Gemeinde wegen der Kehrichtsackgebühren vorsprechen musste? Gegen den Gang auf die Gemeinde ist selbst das Brötchenholen am Sonntagmorgen ein richtiges Highlight. So unattraktiv das «Konsumerlebnis» von Dienstleistungen auch sein mag, sie sind dennoch unaufhaltsam auf dem Vormarsch. In den USA beträgt heute der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt (BIP) noch knapp 18 %. In der Schweiz, die neben Deutschland als einziges der wenigen hochentwickelten Industrieländer überhaupt noch diesen Namen verdient, liegt dieser Wert – je nach Schätzung und Quelle – bei ca. 25 bis 30 %. Gemessen an der Beschäftigung ist der Industrieanteil mit knapp 22 % tiefer. Offenbar ist aber die Industrie heute um einiges wertschöpfungsintensiver als der Dienstleistungsbereich, da dessen Beschäftigungsanteil, anders als in der Industrie, höher ausfällt als sein Wertschöpfungsanteil. In der Schweiz ist das besonders ausgeprägt. Ebenso ausgeprägt ist unsere extrem hohe Exportquote (Exporte gemessen am BIP) von gut 65 % (China knapp 20 %). Woran mag das wohl liegen?

 

Fit dank Rosskuren

Die hohe Exportquote der Schweiz ist eine Erfolgsgeschichte, auch, oder gerade weil sie immer wieder in Frage gestellt wurde. So oft schon schienen Schweizer Exportzweige dem Untergang geweiht und doch kam es stets anders. Unsere Währung war jeweils die grösste Herausforderung. Sie neigte schon immer zur Stärke, weshalb sich die hiesigen Anbieter fast täglich neu erfinden mussten. Auch vor der Globalisierung schien die Schweizer Exportwirtschaft einst passen zu müssen, bevor sie ihr Nutzniesser wurde oder das EWR Nein im Jahre 1992 nutzten viele Propheten, den Schweizer Exporten den Tod vorauszusagen. Und doch sind wir noch immer Spitze. Nicht trotz der starken Währung, sondern wahrscheinlich genau wegen ihr. Sie beschert unserer Industrie nicht nur ein hartes, sondern auch ein lebenslanges Training. Das ist exakt der Erfolgsfaktor, genau gleich wie im Sport. Oder kennen Sie einen Topsportler, der seine Trainingsanstrengungen laufend reduzierte und dennoch an der Weltspitze blieb? Kaum. Genauso wenig, wie ich auch keinen Athleten kenne, der es geschafft hätte, mit Einsparungen allein Plätze gut zu machen. In einem Hochpreisland wie der Schweiz Kosten sparen zu wollen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, kann auf Dauer nicht gut gehen, wenn man nicht auch die Löhne senkt. Also hilft nur intensives Training weiter. Damit tut sich der Dienstleistungssektor um einiges schwerer als Bau oder Industrie.

 

Schlusslicht Banking

Das Bauhauptgewerbe in der Schweiz produziert heute mit ungefähr der Hälfte des Personals gleich viele Wohnungen wie vor gut dreissig Jahren. Die Bauwirtschaft kam in der Immobilienkrise der Neunzehnneunzigerjahre schwer unter die Räder und musste sich danach fast neu erfinden. Das war aufwendig und schmerzhaft, aber letztlich gelang es der Branche wieder Boden zu finden. Heute ist der Bauberuf nicht mehr so lukrativ wie damals, aber immer noch attraktiv. Bauunternehmer verdienen nicht mehr unverschämt dafür aber nachhaltiger. Die «normalen» Angestellten werden dafür fair und gut bezahlt. Zehn Jahre dauerte der Wandel der Branche, dem gut ein Drittel der Anbieter zum Opfer fielen. Mein Sohn erwägt auch die Bauwirtschaft als zukünftigen Arbeitgeber. Seine kindlichen, aber stichhaltigen Argumente: gute Bezahlung, man produziert nicht nur dünnes Papier oder heisse Luft, man ist den ganzen Tag an der frischen Luft und Bauten wird es immer brauchen, neu oder erneuert. Und über Banking reden heute immer weniger Schulabsolventen. Dort – so heisst es – sei der Gipfel längst überschritten und mit dem Image sei es auch nicht mehr weit her, nach den vielen Finanzkrisen, der Rettung durch Staaten und nachdem sich die Topmanager fast nur noch der Abwehrschlacht an der Bonusfront widmeten. Auch die Hightech-Branche findet mein Sohn nicht mehr so attraktiv. Die seien inzwischen in viel zu viele Skandale verwickelt und in einem ähnlichen Fahrwasser wie Wallstreet in den Achtzigerjahren. Und sie würden auch schon beginnen, Kosten zu sparen, ohne Ideen für neue Geschäftsfelder oder Leistungen aufzubauen. Die sollten sich mal auf der Baustelle umschauen, so sein Tipp, anstatt von Quartal zu Quartal den Wandel zu predigen.

 

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