Ohne Risiko, kein Ertrag – Zwei Seiten derselben Medaille

Die Welt befindet sich im Krisenmodus. Der Ukraine-Krieg, die Null-Covid-Strategie in China und die restriktivere Geldpolitik haben die kurzfristigen Risiken erhöht. Weitere Rückschläge an den Börsen sind wahrscheinlich. Der einseitige Fokus auf die Risiken ist aber gefährlich. Risiken bieten nämlich immer auch Chancen.

Unsystematische Risiken lassen sich minimieren

Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Handelskonflikte, Lieferengpässe und eine explodierende Inflation – die Welt befindet sich seit über zwei Jahren im Krisenmodus. Die Risiken scheinen zu dominieren und verunsichern die Anlegerinnen und Anleger. Sollte man jetzt alles verkaufen und sein Geld unter die Matratze legen? Davon würden wir klar abraten. Aber alles der Reihe nach.

Definiert wird Risiko oft als eine Verlustgefahr. Diese kann ökonomisch betrachtet zu unerwartet hohen Kosten oder tieferen Erträgen führen. Verlustgefahren betreffen den Eintritt zukünftiger Ereignisse, von denen sowohl ungewiss ist, ob sie überhaupt eintreten, als auch, mit welcher Intensität sie sich auswirken werden.

Dies lässt sich am Beispiel der Corona-Pandemie gut illustrieren. Zwar sind mit der Vogelgrippe (2005), Mers (2012) und der Ebola-Epidemie (2014-2016) in den vergangenen Jahren immer wieder Gesundheitskrisen aufgetreten. Dabei handelte es sich aber vorwiegend um regionale Ereignisse. Ob und wann allerdings eine Pandemie die gesamte Weltbevölkerung treffen würde, war nicht prognostizierbar. Dasselbe galt für die drastischen Massnahmen mit kompletten Shutdowns und Ausgangssperren, welche die Regierungen weltweit ergriffen haben. Die immensen volkswirtschaftlichen Kosten waren daher im Vorfeld ebenso wenig kalkulierbar. Die Corona-Pandemie war letztlich ein klassischer exogener Schock und ein sogenanntes «Schwarzer Schwan»-Ereignis.

Der Umgang mit Risiken ist für Anleger eine Herausforderung. In unserem Anlagekomitee gehört die Risikoanalyse zu einem wichtigen Bestandteil der Anlagepolitik. Eine bewusste Risikowahrnehmung trägt dazu bei, auftauchende Unsicherheiten frühzeitig zu erkennen und wenn möglich zu bewältigen. Dabei stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung: Risikovermeidung, Risikominderung, Risikodiversifikation oder ein Risikotransfer (Versicherung).

Der erste wichtige Schritt beim Anlegen beginnt mit einer detaillierten Analyse der persönlichen Risikofähigkeit und der Risikobereitschaft. Die Risikofähigkeit lässt sich quantitativ herleiten. Hier steht eine Aufstellung der Vermögenssituation, des Einkommens, der Sparquote und des Liquiditätsbedarfs im Fokus. Ein wichtiger Faktor ist dabei der Anlagehorizont. Je länger dieser ist, desto höher ist die Risikofähigkeit. Denn der Zeitfaktor hilft dabei, auch schwächere Marktphasen «aussitzen» zu können. Schwieriger und eher subjektiv wird es bei der Festlegung der eigenen Risikobereitschaft. Dabei geht es um den individuellen Umgang mit Risiken. Wer risikoavers ist, also das Risiko eher scheut, wird mit einem hohen Aktienanteil kaum glücklich – selbst wenn die Risikofähigkeit einen solchen zulassen würde. Ist die Risikofähigkeit und Risikobereitschaft abgeklärt, lässt sich daraus das entsprechende Anlegerprofil ableiten. Darauf basiert die Wahl der langfristigen Anlagestrategie.

Mit der Umsetzung der Anlagestrategie werden konkrete Investitionen getätigt. Dabei wird im Anlagekontext zwischen dem systematischen und dem unsystematischen Risiko unterschieden. Die unsystematischen Risiken beziehen sich auf unternehmensspezifische Ereignisse. Dazu können Missmanagement oder Fehlentscheidungen, aber auch branchenspezifische Entwicklungen gehören. Als Beispiel: Wer sein ganzes Vermögen in Aktien von Swissair, Enron oder Wirecard investiert hatte, musste einen Totalverlust verkraften. Dieses Risiko lässt sich minimieren. Dies gelingt, indem sowohl Aktien als auch Anleihen in Bezug auf die Einzeltitel aber auch die Branchenzugehörigkeit breit gestreut werden. Somit kommt der sogenannten Diversifikation eine besonders grosse Bedeutung zu. Ab etwa 20 Einzelwerten gilt eine Anlageklasse als genügend diversifiziert. Noch besser diversifiziert ist, wer in Anlagefonds oder ETF investiert. Enron und Wirecard waren zwar auch im MSCI World Index enthalten, ihr Konkurs hatte auf Indexebene allerdings praktisch keinen Einfluss.

Zusammenhang von Risiko und Anzahl Titel

Quelle: Raiffeisen Schweiz CIO Office

Die Volatilität ist gestiegen, zeigt aber (noch) keine Panik an

Risiken lassen sich zudem verringern, indem Anlageklassen mit tiefer Korrelation einem Portfolio beigemischt werden. Gold, Immobilien oder andere Alternative Anlagen können diese Aufgabe teilweise übernehmen. Ebenfalls zur Risikominderung kann eine aktive Anlagetaktik beitragen. Bei den diskretionären Vermögensverwaltungsmandaten und den Anlagezielfonds steuert das Anlagekomitee innerhalb der festgelegten Bandbreiten die Risiken. Diese können situativ reduziert oder erhöht werden.

Übrig bleiben systematische Risiken. Einen Teil davon können Anleger theoretisch mit Hilfe von Derivaten absichern. Dabei fällt allerdings eine «Versicherungsprämie» an, welche besonders in unsicheren Zeiten teuer ist. Ein Restrisiko bleibt beim Anlegen aber immer. Für dieses werden Investoren mit einer Risikoprämie entschädigt. Risiko ist eben nur eine Seite der Medaille. Die andere ist die der Chancen. Ohne Risiko, kein Ertrag. Aktienanlagen schwanken zwar deutlich stärker als beispielsweise sichere Staatsanleihen. Dafür resultiert aber eine höhere langfristige Rendite.

Kurzfristig gehen wir aufgrund der geldpolitischen Kehrtwende, der anhaltenden Lieferengpässen und den hohen Teuerungsraten von hohen Schwankungen an den Börsen aus. Die Gewinnerwartungen sind zudem (noch) zu hoch und entsprechend ist das Enttäuschungspotenzial im Hinblick auf die Zahlen zum zweiten Quartal gross. Doch obwohl die Nervosität an den Aktienmärkten zugenommen hat, ist keine Panik erkennbar. Ein guter Massstab für eine solche ist der Volatilitätsindex (VIX). Dieser befindet sich zwar aktuell über dem langfristigen Durchschnitt, allerdings noch weit unter den Niveaus von 2008 oder im Frühjahr 2020. In den kommenden Monaten sind an den Börsen weitere Kursrücksetzer wahrscheinlich. Dem tragen wir mit unserer defensiven taktischen Positionierung Rechnung. Für längerfristig orientierte Anleger bieten aber gerade solche Rückschläge attraktive Kaufgelegenheiten. Und die «Good News» ist, dass aufgrund der bereits erfolgten Korrektur die Risikoprämien zuletzt wieder spürbar gestiegen sind.

VIX Index und S&P 500 Index

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Der CIO erklärt: Was heisst das für Anleger?

Die aktuellen geopolitischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten sind unübersehbar. Die blosse Fokussierung auf das Risiko ist allerdings gefährlich. Denn ohne Risiko, kein Ertrag. Im Portfoliokontext lassen sich mit Hilfe einer breiten Diversifikation wesentliche Risiken minimieren. 

Für die nicht-diversifizierbaren systematischen Risiken werden Anleger mit einer Risikoprämie entschädigt. Je höher der Aktienanteil in einem Portfolio ist, desto höher fällt diese aus. Der Preis dafür sind grössere Schwankungen. Wer über einen langfristigen Anlagehorizont und die nötige Risikobereitschaft verfügt, sollte sich vom aktuellen Newsflow nicht verunsichern lassen und sich die Alternativen vor Augen führen: Geld unter der Matratze (oder auf dem Konto) wirft keine Rendite ab. Real betrachtet resultiert bei der aktuellen Teuerung ein jährlicher Kaufkraftverlust. Auch das ist ein Risiko – allerdings ohne Chancen.

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz