Wie Schweizer KMU Industrie 4.0 anpacken

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Edi Platter vom Raiffeisen Unternehmerzentrum RUZ in Baar rät Unternehmerinnen und Unternehmern, das Thema Industrie 4.0 ganz oben auf die Agenda zu setzen und Investitionen optimal zu finanzieren. Er ist überzeugt, dass die Schweizer Industrie mit der Digitalisierung intelligenter und wettbewerbsfähiger wird. Das stärkt den Produktionsstandort Schweiz.

Edi Platter Raiffeisen Unternehmerzentrum RUZ

Edi Platter ist Finanzierungsbegleiter beim Raiffeisen Unternehmerzentrum RUZ.

 

Anina Torrado Lara: Herr Platter, alle reden von Industrie 4.0 und dem «Internet of things». Was bedeutet das? 

Edi Platter: Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Unter Industrie 4.0 versteht man die vierte industrielle Revolution, die durch die Digitalisierung möglich wird. Dabei werden Leistungen, Technologien und Prozesse eines Unternehmens so optimiert und digital abgebildet, dass sie möglichst durchgängig und integriert entlang der Wertschöpfungskette ablaufen. Dabei geht es sowohl um die internen Prozesse als auch um die Schnittstellen zu Lieferanten und Kunden. 

Das «Internet of things» hingegen ist das Vernetzen von physischen Objekten. Wir können jedes Bauteilchen einer Maschine mit einem Chip oder Sensor ausstatten, damit diese dann «kommunikativ» werden. So lässt sich der Zustand der Teile über die Distanz hinweg kontrollieren; oder die Maschine setzt bei einem Problem selber eine Meldung ab. Es geht sogar so weit, dass ein intelligentes Bauteil die weiteren Bearbeitungsschritte kennt und diese der nächsten Fertigungsstufe mitteilt. 

 

A. T. L.: Das klingt, als bräuchte es bald keine Menschen mehr. 

E. P.: Es ist so, dass die Digitalisierung einige Berufe ersetzen wird – wie das schon bei der Automatisierung der Fall war. Aber es entstehen auch viele neue Berufe. Der Bedarf an Fachkräften ist bereits heute sehr gross. Der Mensch wird sich vermehrt mit Daten, Vernetzung, Sicherheit und Prozessoptimierung befassen müssen. Und hier entstehen völlig neue Berufsbilder, die heute teilweise noch unbekannt sind. 

Mitarbeiter nimmt Wartungsarbeiten vor

A. T. L.: Wie kontrolliert man eine Maschine über die Distanz?

E. P.: Nehmen wir als Beispiel ein Bearbeitungszentrum in Sibirien. Die dortigen Maschinen enthalten eine Vielzahl an Sensoren, die den Zustand laufend überwachen und vorausschauend erkennen, wenn sich irgendwo ein Ausfall anbahnt. Die Maschinen können beim Schweizer Hersteller sogar automatisch ein Ersatzteil bestellen. Beim Einbau des Ersatzteils kann der Techniker in der Schweiz die Maschine über einen «digitalen Zwilling» steuern, also mittels einer Simulation der Anlage. Er kann dem Monteur vor Ort Anweisungen geben oder ihm die Montage-Anleitung digital auf eine intelligente Brille übermitteln. 

A. T. L.: Sind die Schweizer Betriebe fit für den digitalen Wandel?

E. P.: Eine deutliche Mehrheit der Schweizer Unternehmen, die wir in den Raiffeisen Unternehmerzentren (RUZ) betreuen, haben erkannt, dass die Digitalisierung und Industrie 4.0 von hoher strategischer Relevanz sind. Bei der Umsetzung sind sie aber unterschiedlich weit. Viele Firmen haben bereits den gesamten Betrieb vom Bestelleingang bis hin zur Lagerverwaltung digitalisiert, andere haben erst Teilprozesse angepackt, wieder andere stehen noch ganz am Anfang. Eine eindeutige Aussage lässt sich darum nicht machen. 

 

A. T. L.: Werden wir uns auf dem Weltmarkt behaupten können?

E. P.: Davon bin ich überzeugt! In der Schweiz wird fleissig an der Zukunft gearbeitet, schliesslich sind wir «Innovationsweltmeister». Mit der Digitalisierung können wir unsere Innovationen auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt machen. Ich glaube fest daran, dass die Schweiz durch die Produktivitätssteigerung, welche die Industrie 4.0 ermöglicht, ein attraktiver Werkplatz bleiben wird. Ich kenne ein Schweizer KMU, das von einem US-Unternehmen über eine Schnittstelle CAD-Zeichnungen für Komponenten erhält. Diese Einzelanfertigungen werden innerhalb von 48 Stunden in der Schweiz produziert und wieder in die USA gesandt – in bester Qualität. Ähnliche Beispiele von sehr agilen Schweizer Unternehmen in der MEM-Industrie gibt es einige. Ich kann mir sogar vorstellen, dass die Digitalisierung dazu beiträgt, dass Unternehmen ihre Produktion wieder in die Schweiz zurück verlagern, weil die tieferen Lohnkosten in China oder Indien inskünftig weniger ins Gewicht fallen.

 

A. T. L.: Was raten Sie einem Unternehmer? 

E. P.: Wenn es nicht schon passiert ist, muss sich die Geschäftsleitung jetzt dringend mit der Digitalisierung auseinandersetzen. Und dann heisst es: Tun! Industrie 4.0 muss man machen, man kann sie nicht einfach zukaufen. Ich beobachte, dass die jüngere, digitalisierungsaffinere Unternehmergeneration sich durchaus bewusst ist, welche Chancen sich bieten. 

 

A. T. L.: Wo anfangen?

E. P.: Es gibt kein Patentrezept, aber wichtig ist, keine Schnellschüsse zu machen. In den Raiffeisen Unternehmerzentren bieten wir mit einem kostenlosen Erstgespräch den Einstieg ins Thema an. Auch auf der Webseite von Industrie2025 gibt es ein hilfreiches Quickstarter-Angebot. Es vermittelt Wissen und hilft, sich die richtigen Fragen zu stellen. Ein KMU kann auch klein anfangen und den Betrieb schrittweise umstellen. Ich habe ein Unternehmen begleitet, das einen Drei-Schritte-Plan verfolgt hat: Als erstes haben wir sämtliche innerbetrieblichen Prozesse analysiert und optimiert, um SAP einzuführen. In einem zweiten Schritt wurde die Kundenseite über ein Portal und mit einem zentralen Datenaustauschformat in den Bestellprozess integriert. Und als letztes haben wir im Beschaffungswesen diverse Projekte umgesetzt, um die Systemanbindung der Lieferanten zu gewährleisten. 

 

A. T. L.: Was hat die totale Vernetzung gebracht?

E. P.: Effizienz! So wurde in der Werkzeugausgabe jedes Werkzeug und jede Schublade digital vernetzt: Nimmt heute jemand einen Bohrer oder Fräser aus der Schublade, wird ein Signal ans Warenlager gesendet, das mit diversen Informationen (Werkzeugtyp, Auftrag, Entwender, etc.) verknüpft ist. Sobald der Mindestbestand des Werkzeugs unterschritten wird, löst das System automatisch eine Bestellung beim Lieferanten aus, der ins Haus kommt und die Werkzeugbox wieder auffüllt.

 

A. T. L.: Wieviel muss ein Unternehmen investieren?

E. P.: Viele Unternehmen verwenden drei bis fünf Prozent ihres Umsatzes für Digitalisierungsprojekte. Ein Grossteil der Investitionen fliesst in die Mitarbeitenden (40-50 Prozent) und in Systeme und Software-Lösungen (30 Prozent). Grundsätzlich ist es von Vorteil, wenn eine umfassende ERP-Lösung in der Lage ist, alle Schritte der Wertschöpfungskette übergreifend und integriert abzubilden und zu verarbeiten. Immer geringer wird der Anteil der Ausgaben für die Beschaffung von Sachanlagen. 

 

A. T. L.: Finanziert die Bank eine solche Investition?

E. P.: Eines vorweg: Es ist für KMU heute eine Herausforderung, Kapital zu beschaffen. Denn bei vielen Bankinstituten fehlt das Wissen über Industrie 4.0 und der Risikoappetit auf neue Geschäftsmodelle. Die Firmenkundenberater bei Raiffeisen hingegen sind mit dem Thema vertraut, weil sie aktiv geschult werden. Die Digitalisierung der Industrie geniesst bei Raiffeisen eine hohe Priorität. Beim RUZ wiederum arbeiten keine Bankfachleute, sondern ehemalige Unternehmer aus der Industrie und dem Gewerbe, welche die Herausforderungen bei der Umsetzung von Industrie 4.0 aus eigener Erfahrung kennen. Und diese Kombination gibt es sonst nirgendwo: Dass sich eine Bank die praktische Industriekompetenz ins Haus geholt hat. 

 

A. T. L.: Wie unterstützt das RUZ?

E. P.: Die Begleiter und Berater beim RUZ können die Unternehmer bei der Entwicklung des Geschäftsmodells, des Businessplans, aber auch beim Kreditantrag für ihre Projekte aktiv unterstützen. Mit diesen Dokumenten ist der Unternehmer bereit, mit seiner Bank oder anderen Geldgebern die Finanzierungsmöglichkeiten zu besprechen – beispielsweise über ein Darlehen, Leasing, eine Hypothek oder die Aufstockung des Kontokorrentkredits. Wie immer bei Investitionen in die Zukunft kommt dem Finanzierungsmix eine hohe Bedeutung zu. Hier lohnt es sich, überlegt vorzugehen. Beim RUZ fällen wir zwar keine Kreditentscheide, aber wir begleiten den Unternehmer ganz nahe bei der Umsetzung seines Projektes, inklusive Finanzierung.

A. T. L.: Welche Unterlagen benötigt die Bank, damit sie das Industrie 4.0-Projekt unterstützt?

E. P.: Die Unterlagen sollten der Bank verständlich machen, worin der Mehrwert des geplanten Projektes liegt und weshalb sich die Investition auf die Wettbewerbsfähigkeit und den Fortbestand des Unternehmens positiv auswirkt. Der Unternehmer soll der Bank auch aufzeigen, welche Meilensteine und Szenarien er sich überlegt hat. Zur Entscheidungsfindung braucht die Bank einen Businessplan, die Abschlusszahlen der letzten drei Jahre, eine Mittelfristplanung über drei bis fünf Jahre und eine Investitionsrechnung mit Kostenvoranschlägen. Wer bei der Zusammenstellung dieser Dokumente Unterstützung sucht, findet diese beim RUZ. Wir helfen gerne. 

 

A. T. L.: Wie wird die Industrie in fünf Jahren aussehen? 

E. P.: Die vierte industrielle Revolution wird die Industrie mit Sicherheit stark verändern. Alle Partner entlang der Wertschöpfungskette werden in Zukunft noch vernetzter, agiler, schneller und kundenorientierter sein – und dies international. Wir werden Redundanzen weitgehend eliminieren und vermehrt prozessorientiert und virtuell arbeiten. Die Digitalisierung wird auch Auswirkungen auf die Aus- und Weiterbildung mit sich bringen. Es werden neue Berufsgruppen entstehen und neue Kenntnisse gefragt sein. So gesehen entwickeln sich nicht nur unsere Maschinen und Prozesse weiter, sondern auch wir.

 

Foto: Bodo Rüedi

 

Industrie 4.0 ist ein Schwerpunktthema des RUZ. Das RUZ ist Partner der Initiative «Industrie2025» und hat vor Kurzem eine Kooperation mit dem Branchenverband Swissmem bekannt gegeben.

 

Zur Person Edi Platter

Edi Platter

Edi Platter hat viele Jahre lang selber sein Unternehmen geleitet und weiss, dass die Finanzierung von Digitalisierungsvorhaben durchaus anspruchsvoll ist. Seit 2018 berät der 52-Jährige RUZ-Kunden in der gesamten Schweiz und hilft ihnen, Businesspläne zu entwickeln und die Finanzierung anzubahnen. In der Regel gelangen die KMU nach einem ersten kostenlosen Erstgespräch zu ihm. In einer RUZ Werkstatt werden die Fragestellungen dann gemeinsam vertieft und die Weichen für die Zukunft gestellt.