Im Fokus: Die Einhörner gehen an die Börse

Die Häufung von vergleichsweise jungen, schnell wachsenden Unternehmen, die schon vor dem Börsengang mit einer Bewertung von über einer Milliarde US-Dollar gehandelt werden, fällt auf. Die grosse Mehrheit dieser Unternehmen - «Einhörner» genannt - macht momentan noch Verluste. Und so sind die «teuren» Aktien dieser Einhörner eine Wette auf die Zukunft.

Die Perspektive macht den Unterschied

Börsengänge sind wieder en vogue, insbesondere in den USA. Noch in den ersten Wochen des Jahres lagen neue Publikumsöffnungen – im Englischen IPO (initial public offering) genannt –  in den Vereinigten Staaten komplett auf Eis, da die zuständige Aufsichtsbehörde aufgrund der von Präsident Trump verhängten Haushaltssperre nicht wie gewohnt arbeiten konnte. Inzwischen brummt das Geschäft aber wieder und die Pipeline mit neuen Börsenkandidaten ist prall gefüllt. Wenn das Umfeld positiv bleibt, könnte 2019 gar ein Jahr neuer Superlative werden. Insgesamt stehen jenseits des Atlantiks rund 300 Unternehmen in den Startlöchern. Die Ausgabe von Aktien könnte ihnen gemäss den optimistischsten Schätzungen insgesamt bis zu 100 Milliarden US-Dollar in die Kassen spülen. Eine Summe, die bisher allein in den Jahren 2007 und 2014 erreicht wurde. 

Für die älteren (Börsen-)Hasen ist ein solcher IPO-Boom eigentlich nichts Neues. Das Neuemissionsgeschäft ist stark von der Stimmung der Investoren abhängig und ebenso schwankungsanfällig. Wie der Aktienmarkt selbst folgt es Aufwärts- und Abwärtszyklen. Pessimisten sehen in den potentiellen neuen Rekordzahlen bereits Zeichen für das nahende Ende des Aktienbullenmarkts. Optimisten halten dem entgegen, dass wir sowohl inflationsbereinigt als auch bezogen auf die Marktkapitalisierung der IPOs am Gesamtmarkt von Rekordniveaus weit entfernt sind und dass auch die IPO-Welle 2014 noch nicht das Ende der Fahnenstange darstellte.

Kapitalaufnahme von US-Grossunternehmen beim Gang an die Börse (2019 = Schätzung)

Absolut = rekordverdächtig, relativ = weniger imposant. Quelle: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

 

Tech-Comeback – Technologieaktien bereits wieder auf neuen Höhen

Was in der aktuellen Phase aber auffällt und durchaus als Warnsignal interpretiert werden kann, ist die Häufung von vergleichsweise jungen, schnell wachsenden Unternehmen, die schon vor dem Börsengang mit einer Bewertung von über einer Milliarde US-Dollar gehandelt werden. Ein solch teures Preisschild sollte für «Starts-Ups» eigentlich eine Seltenheit sein, daher werden sie in der Finanzwelt auch gerne als «Einhörner» bezeichnet.

Inzwischen treten die Fabeltiere – ganz entgegen ihrem Wesen – allerdings im Dutzend auf. Mit Fanfaren und Trompeten wagt zuletzt ein Unternehmen nach dem anderen den Gang aufs Parkett. Und mehr denn je liefern sich die beiden grossen US-Börsenplätze – die New Yorker Aktienbörse (NYSE) einerseits und die Technologiebörse NASDAQ andererseits – einen Wettkampf um die schillerndsten Neuzugänge und die meisten Aktienplatzierungen. Airbnb (Ferienvermittler), Slack (Nachrichtendienst) oder Palantir (Datenspezialist). Dies sind nur einige der mehr oder weniger bekannten Namen von Einhörnern, die sich in der Warteschleife für den Börsengang befinden. Gemeinsam ist ihnen nicht nur die fabelhafte Bezeichnung, sondern auch die Tatsache, dass sie sich das Geld für Investitionen und Wachstum bisher in diversen privaten Finanzierungsrunden meist von Risikokapitalgesellschaften oder schwerreichen Investoren besorgt haben. Diese streben nun zumindest den teilweisen Ausstieg aus ihren Investments an. Die Börsenstimmung hat sich jüngst wieder spürbar verbessert – gerade im Technologiebereich, der im Aufschwung seit Jahresbeginn die Nase vorn hat und bereits wieder neue Höchststände markiert. Dies gibt die Möglichkeit bei hohen Preisen «Kasse zu machen».

Entwicklung der US-Branchenindizes seit 20. September 2018 (Jahreshoch 2018 des S&P 500-Index)

Quelle: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Eine Wette auf die Zukunft – Börsenneulinge sind mehrheitlich in den roten Zahlen

Eine weitere Gemeinsamkeit der Einhörner sind Geschäftszahlen, welche beim kritischen Beobachter zumindest Fragezeichen aufsteigen lassen: Oft steigen die Umsätze zwar im hohen zweistelligen Prozentbereich, die Unternehmensergebnisse sind aber fast durchwegs negativ. Tatsächlich ist es heutzutage fast schon die Regel, dass Unternehmen beim Gang an die Börse noch nicht profitabel wirtschaften. Seit Jahren steigt der Anteil an IPOs mit roten (Gewinn-)Zahlen. In den Jahren 2000 und 2018 waren es 81 %, dieses Jahr könnten es noch mehr werden. Bei einigen Einhörnern ist das Missverhältnis bei den Zahlen aber besonders ausgeprägt wie das Grösste unter ihnen – der Fahrdienstleister Uber – exemplarisch belegt. Dieser steigerte seine Erträge im letzten Jahr um 43 % auf 11,3 Milliarden US-Dollar, fuhr aber gleichzeitig einen Verlust von sagenhaften 3 Milliarden US-Dollar ein. Beim für Anfang Mai geplanten IPO rechnen Analysten dennoch mit einer fast schon fantastisch anmutenden Bewertung von bis zu 90 Milliarden US-Dollar. Damit würde Uber zu den fünf grössten Börsengängen gehören, die es je an der Wall Street gegeben hat.

Anteil von US-IPOs mit negativen Unternehmensgewinnen

Quelle: University of Florida, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Anleger, die bei den Einhörnern auf dem heutigen Preisniveau noch einsteigen, setzen darauf, dass die vielen Vorschusslorbeeren gerechtfertigt sind und die Unternehmen zukünftig in die hohen Bewertungen hineinwachsen. Enttäuschungen sind auf dem Weg dorthin aber nicht auszuschliessen. Der Uber-Konkurrent Lyft, welcher bereits Ende März sein Börsendebut gab, verzeichnete bei der Erstnotiz zwar einen kurzen Freudensprung von 20 %. Mittlerweile liegt der Aktienkurs aber rund ein Viertel unter dem Ausgabepreis. Wie so oft hat auch diese Medaille zwei Seiten. Denn offensichtlich überteuerte IPOs können für Anleger, die auf fallende Kurse spekulieren, auch Chancen bieten. Kein Wunder, das die Lyft-Aktie in den letzten Wochen eines der beliebtesten Papiere für das sogenannte «short selling» (Leerverkäufe) war.

Der CIO erklärt: Was heisst das für die Schweiz?

Nachdem es dieses Jahr im ersten Quartal in Westeuropa so gut wie keine Aktienneuemissionen gab, kam zuletzt wieder etwas Bewegung ins Spiel. So haben mit Medacta und Stadler inzwischen auch in der Schweiz zwei Unternehmen den Gang aufs Parkett gewagt. «Im Gegensatz zu den «Einhörnern» aus den USA erwirtschaften diese Börsenneulinge seit langem Gewinne und ihre Bewertung ist zwar ambitioniert, aber nicht total übertrieben. Aufgrund ihrer vergleichsweise «langweiligeren» Geschäftsmodelle dürften die Aktienkurse dieser Titel zwar nicht in den Himmel wachsen. Dafür benötigen Anleger aber weniger Fantasie und müssen weniger Enttäuschungspotential fürchten», erklärt Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz.

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz