«Für langfristige Anleger finden sich jetzt Einstiegschancen»

Matthias Geissbühler, CIO von Raiffeisen Schweiz, setzt auf Unternehmen mit guter Bilanz – auch auf Zykliker wie OC Oerlikon. Und sieht in der aktuellen Situation für Anleger mit einer langfristigen Perspektive durchaus attraktive Einstiegschancen.

Interview mit Matthias Geissbühler, CIO von Raiffeisen Schweiz

Herr Geissbühler, die Aktienmärkte spielen verrückt. Kann man diese Volatilität noch durch Unsicherheit um das Virus erklären?

Matthias Geissbühler: Es gibt verstärkende Faktoren. So spielt das automatische Trading über Algorithmen eine wichtige Rolle – werden bestimmte Limits erreicht, werden so Positionen liquidiert. Zudem sind Investoren gezwungen zu liquidieren, wenn Margin Calls gegeben werden. Darüber hinaus ist in vielen Segmenten die Liquidität versiegt, und es gibt kaum noch Käufer. Besonders deutlich ist dies im Bereich der Hochzinsanleihen sichtbar.

Was raten Sie Anleger im jetzigen Umfeld?

M. G.: Angesichts der hohen Schwankungen ist jetzt der falsche Zeitpunkt, sich zu stark zu exponieren. Man muss Ruhe bewahren und sich vor Aktionismus hüten. Die Kurse könnten kurzfristig noch weiter sinken. Aber langsam kommt der Zeitpunkt, ein Rebalancing durchzuführen – also die Aktienquote im Portfolio nach den gefallenen Kursen auf das ursprüngliche Niveau hochzufahren. Der Einstieg sollte jedoch schrittweise vollzogen werden, und unsere Aktienquote bleibt insgesamt neutral.

Ein langfristiges Engagement an der Börse sollte sich also lohnen?

M. G.: Ja, aber der kurzfristige Ausblick ist sehr schwierig. Anleger mit einer langfristigen Perspektive können jedoch zunehmend attraktive Einstiegschancen finden. Selbst wenn man bei den Unternehmen im Swiss Performance Index einen Gewinnrückgang von 10 % annimmt, ergibt sich ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 12.

«Unser Motto ist jetzt: Qualität, Qualität, Qualität. Bei Problemsektoren sind wir sehr vorsichtig.»

Und das ist günstig?

M. G.: Ja, das KGV liegt jetzt eine Standardabweichung unter dem historischen Durchschnitt. Vor dem Kurseinbruch waren die Aktien eher teuer, die Bewertung lag eine Standardabweichung darüber. Die Gewinnrendite beträgt 8,5 %, bei einer Rendite auf Staatsanleihen von –0,5 % entspricht das einer Risikoprämie von 9 %. Das ist eine hohe, attraktive Prämie und spricht für ein langfristiges Engagement in Aktien, besonders wenn man die Folgen der Pandemie als kurzfristigen, exogenen Schock betrachtet.

Welche Aktien bevorzugen Sie?

M. G.: Unser Motto ist jetzt: Qualität, Qualität, Qualität. Denn im Ausverkauf an der Börse wurde nicht ausreichend differenziert – auch gut aufgestellte, defensive Valoren kamen unter Druck. Das auch deswegen, weil Aktien pauschal über ETF und Futures abgestossen wurden. Die Problemsektoren wie die Fluglinien und das Ölgeschäft erscheinen zwar verlockend günstig, aber dort sind wir sehr vorsichtig. Wir lassen auch die Finger von hochverzinslichen Anleihen in diesen Sektoren. Da wird es wohl zu Kreditausfällen kommen.

Was für Qualitätstitel sind interessant?

M. G.: Die grossen Schweizer Blue Chips Nestlé, Novartis und Roche sind weiterhin gut aufgestellt, die Lieferketten funktionieren auch jetzt noch. Der Absatz ist nicht in Gefahr: Nahrung und Medizin bleiben in der Krise gefragt. Solche Werte kann man nun günstiger nachkaufen. In der zweiten Reihe sind Valora und Galenica interessant. Apotheken und Kioske bleiben ja offen. Auch zyklische Titel mit sehr guter Bilanz kann man in Betracht ziehen.

Schweizer Blue Chips

Grafik Schweizer Blue Chips

Quelle: Refinitiv / FuW

Welche Zykliker wären das?

M. G.: Dazu gehört etwa OC Oerlikon. Dank eines Liquiditätspolsters von 300 Mio. Fr. kann man eine Durstphase durchstehen. Auch Swatch Group ist nun massiv unter Druck, hat aber grosses Aufholpotenzial. Wenn Infrastrukturprogramme der Staaten lanciert werden, sollte der Zementhersteller LafargeHolcim profitieren. Dagegen sollte man Aktien von Unternehmen meiden, denen ein Kapitalpolster fehlt – dazu gehören etwa Meyer Burger, Aryzta, Dufry und Schmolz + Bickenbach.

Wie sieht es mit den Banken aus?

M. G.: Nicht nur die Krise bringt die Banken unter Druck. Der Kurs von UBS oder Credit Suisse könnte nach dem brutalen Absturz kurzfristig zwar wieder steigen. Aber schon allein wegen der strukturellen Trends raten wir unseren Kunden von Aktien der Grossbanken ab. So wird das Zinsumfeld immer schwieriger, die Margen – besonders für Kredite und Hypothekengeschäfte – gehen weiter zurück. Dazu kommt der Regulierungsdruck, der auch nach der Krise nicht zurückgehen wird. Und die Konkurrenz von Fintech-Unternehmen nimmt den Banken Marktanteile.

Droht also eine Bankenkrise?

M. G.: Nein, ich mache mir keine Sorgen um einen zweiten Lehman-Fall. Die Notenbanken haben aus der Finanzkrise gelernt und sind auf der Hut. Zudem hat sich die Kapitalisierung der Banken deutlich verbessert.

Gibt es weitere interessante Anlageideen?

M. G.: Wir sind stark in Schweizer Immobilienfonds übergewichtet, besonders in Fonds mit Wohnliegenschaften. Auch die haben deutlich korrigiert. Dabei ist die Cashflow-Situation weiterhin komfortabel, denn die Mieten werden ja weiterhin bezahlt. Auch Gold bleibt als Beimischung im Portfolio attraktiv. Wie andere Anlageklassen hat der Goldpreis unter forcierten Liquidationen wegen Margin Calls gelitten. Längerfristig spricht eine expansive Fiskal- und Geldpolitik für Gold.

Schweizer Immobilien und Gold

Grafik Schweizer Immobilien und Gold

Quelle: Refinitiv / FuW

Sind Sie überrascht, dass die riesigen Massnahmen der Notenbanken und der Regierungen zu verpuffen scheinen?

M. G.: Nein, das war zu erwarten. Die Massnahmen helfen ja nicht gegen die Pandemie selbst. Die Märkte werden sich beruhigen, wenn sich die Entwicklung der Neuinfektionen abflacht, wie das jetzt in China der Fall ist. Das dauert wohl noch Wochen. Das heisst: Die Nachrichten werden in nächster Zeit weiterhin eher schlecht sein.

Wie sinnvoll sind diese Massnahmen?

M. G.: Was die Notenbanken angekündigt haben, geht in die richtige Richtung. Die Liquiditätsengpässe müssen überbrückt werden. Geschäftsbanken müssen weiter ausleihen, um die Kreditvergabe an kleine und mittelständische Betriebe aufrechtzuerhalten. Auch die Regierungen handeln richtig, indem sie Mittel für Kurzarbeit und Überbrückungskredite zur Verfügung stellen, damit Firmen am Leben erhalten bleiben. Aber die Idee aus Washington, «Schecks an alle Haushalte» zu schicken, bringt in der jetzigen Situation überhaupt nichts. Wenn alle Läden geschlossen sind, kann nicht mehr konsumiert werden. Wichtiger statt solchen Stimulusmassnahmen ist es, dass die Banken liquide bleiben und Unternehmen über Wasser gehalten werden.

Könnte die Fiskalpolitik auch nach dem Virus weiterhin extrem expansiv bleiben?

M. G.: Ja, man muss aufpassen, dass die Massnahmen nicht über das Ziel hinausschiessen. Die Renditen der Staatsanleihen gehen in Erwartung der grösseren Staatsausgaben schon nach oben. Für Anleger hat der Diversifikationseffekt von Staatsanleihen bisher sehr gut funktioniert, aber mit mehr Fiskalmassnahmen könnte dieser Effekt in Zukunft nicht mehr greifen. Wir haben unsere Staatsanleihen vergangenen Herbst schon verkauft, da uns die extrem tiefen Renditen völlig unattraktiv erschienen. Dafür haben wir die Liquiditätspositionen erhöht.

«Gold hat unter Liquidationen gelitten. Aber die expansive Fiskal- und Geldpolitik spricht für Gold.»

Sehen Sie noch politische Risiken?

M. G.: Wir hatten Sorgen, dass sich ein Sieg von Bernie Sanders oder Elizabeth Warren in den US-Präsidentschaftswahlen sehr negativ auf die Märkte auswirken würde. Aber das sich nun abzeichnende Duell zwischen Donald Trump und dem moderaten Demokraten Joe Biden macht die Wahlen zu einem weniger wichtigen Event. Die Märkte können mit beiden Kandidaten gut leben.

Wie steht es mit der Angst vor einer neuen Eurokrise? Immerhin ist der Risikoaufschlag für italienische Anleihen hochgeschossen.

M. G.: In der Europäischen Union wird alles Mögliche unternommen, damit sie zusammenhält. Dass der Spread für italienische Anleihen jetzt hochgeht, ist verständlich. Das Land muss sich stark verschulden, um die Effekte der Pandemie abzufedern. Aber in unserem Hauptszenario sind wir immer noch optimistisch: Wenn sich die Lage im Sommer entspannt hat, dann werden auch die jetzigen Ängste verschwinden.

 

Interview: Alexander Trentin, Finanz und Wirtschaft, erschienen am Mittwoch, 25.März 2020 (Nr. 24/2020)