Halbzeitbilanz – Die Rückkehr des Bären

Wir blicken auf ein wenig erfreuliches erstes Halbjahr zurück. Mit Ausnahme von Gold und Rohstoffen haben sämtliche Anlageklassen deutlich an Wert eingebüsst. Der Hauptgrund für die Korrektur liegt in der hartnäckig hohen Inflation, welche durch den Ukraine-Krieg zusätzlich befeuert wurde. Die Notenbanken reagierten mit einer restriktiveren Geldpolitik. Die Zinserhöhungen führten in der Folge zu einer allgemeinen Bewertungskorrektur an den Finanzmärkten.

Die Inflation geht durch die Decke und erreicht 40-Jahres-Höchststände

Unser Jahresausblick 2022 stand unter dem Titel «Im Zeichen der Normalisierung». Im Anlageguide vom Januar haben wir dies wie folgt zusammengefasst: «Die Konjunkturdynamik nimmt ab, ebenso die Gewinnwachstumsraten der Unternehmen. Gleichzeitig rechnen wir – aufgrund der hartnäckigen Inflation – mit einer restriktiveren Geldpolitik. Damit werden sich auch die Kapitalmarktzinsen nach oben bewegen. Anleihen fallen in diesem Jahr erneut als Renditelieferant weg. Auch die Aktienperformances dürften in diesem Jahr moderater ausfallen: Die hohen Bewertungen, steigende Zinsen und ein tieferes Gewinnwachstum sprechen für einstellige Renditen. Die Titelselektion sowie die Dividenden gewinnen damit an Bedeutung. Gold und Immobilienfonds erachten wir zur Diversifikation weiterhin als interessante Anlageklassen.» Entsprechend dieser Einschätzung sind wir anlagetaktisch mit einer defensiven Positionierung ins 2022 gestartet und waren sowohl bei Obligationen als auch bei Aktien untergewichtet. Unsere vorsichtige Positionierung erwies sich rückblickend zwar als richtig, allerdings als nicht vorsichtig genug.

Nicht auf dem Radar hatten wir eine militärische Auseinandersetzung in Europa. Der Ukraine-Krieg hat die bereits hohen Rohstoffpreise weiter nach oben getrieben. Hinzu kam die strikte Null-Covid-Strategie in China, welche unter anderem zu einem wochenlangen Lockdown in der Wirtschaftsmetropole Shanghai geführt hat – mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die bereits seit längerem gestörten Lieferketten. In der Folge sind die Inflationsraten im ersten Halbjahr weiter in die Höhe geschossen und haben teilweise Niveaus erreicht, welche zuletzt in den 1980er Jahren gemessen wurden. 

Entwicklung der Konsumentenpreise in den USA, der Eurozone und der Schweiz

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Halbjahresbilanz – Nur Gold glänzt

Auch die Notenbanken wurden von diesen Entwicklungen auf dem falschen Fuss erwischt. Sie sahen sich gezwungen, deutlich stärker auf die Bremse zu treten, als Anfang Jahr erwartet. Insbesondere die US-Notenbank Fed hat eine rigorose geldpolitische Trendwende eingeläutet. Die Leitzinsen wurden insgesamt bereits um 1.50% erhöht und im Juni hat der Abbau der auf fast 9 Billionen US-Dollar angeschwollenen Notenbankbilanz begonnen. Im Juni überraschte zudem die Schweizerische Nationalbank (SNB) mit einem Zinsschritt um 50 Basispunkte – dem ersten seit 15 Jahren. Aus dem von uns erwarteten geldpolitischen Gegenwind ist damit in kurzer Zeit ein veritabler Sturm geworden. Vor diesem Hintergrund sind auch die starken Kurskorrekturen bei den Obligationen, den Aktien und den Immobilienfonds zu erklären. Die steigenden Zinsen führten zu einer Bewertungskorrektur. Mit Ausnahme von Gold haben im ersten Halbjahr sämtliche Anlageklassen deutlich Federn gelassen.

Performance der Anlageklassen in Schweizer Franken

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Konsumentenstimmung fällt dramatisch und erhöht die Rezessionssorgen

Die erste Halbzeit ist also eine zum Vergessen. Was können Anlegerinnen und Anleger nun denn in den kommenden sechs Monaten erwarten? Geht der Bärenmarkt in eine zweite Runde oder ist bald ein Boden erreicht, wo sich Zukäufe lohnen? 

Bei den Obligationen hat die Zinswende dazu geführt, dass die Verfallrenditen deutlich gestiegen sind. Selbst sichere Staatsanleihen werfen wieder eine positive nominelle Rendite ab. Wie ein Phönix aus der Asche kehrt damit eine lange Zeit verschmähte Anlageklasse als valable Anlagealternative zurück. Die Notenbanken werden zwar noch weiter an der Zinsschraube drehen, die langfristigen Zinsen dürften aber den grössten Teil des Zinsanstieges bereits hinter sich haben. Der Grund für diese Einschätzung liegt bei der Konjunkturentwicklung. Die hohen Inflationsraten haben bei den Konsumenten bereits Spuren hinterlassen. Der Gürtel wird enger geschnallt, das Portemonnaie sitzt nicht mehr so locker. Entsprechend nehmen auch die Rezessionssorgen zu. Dies lässt sich unter anderem an der US-Zinskurve ablesen, welche in den letzten Wochen deutlich abflachte und zwischen den mittleren und längeren Laufzeiten gar invertierte. Das Signal ist klar: Der Kapitalmarkt geht mittelfristig bereits wieder von sinkenden Zinsen aus. Vor diesem Hintergrund haben wir Ende Juni unser starkes Untergewicht bei Obligationen etwas reduziert und bei qualitativ soliden Unternehmensanleihen zugekauft. 

Konsumentenstimmung und Rezessionen in den USA

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Bei den Aktien bleiben wir vorerst defensiv positioniert. Ein Hauptgrund dafür ist die bevorstehende Gewinnsaison. Aufgrund des hohen Margendrucks und der abnehmenden Wachstumsdynamik sehen wir im Hinblick auf die Quartalszahlen Enttäuschungspotenzial. Die Volatilität an den Aktienmärkten dürfte entsprechend hoch bleiben. Den Fokus legen wir weiterhin auf dividendenstarke Qualitätstitel mit soliden Bilanzen und einer starken Marktstellung. Aufgrund seiner eher defensiven Ausrichtung favorisieren wir den Schweizer Aktienmarkt gegenüber den übrigen Regionen. Übergewichtet bleiben wir bei Schweizer Immobilienfonds und Gold. Auch die Liquidität bleibt taktisch erhöht. 

Einiges spricht dafür, dass auch die zweite Halbzeit eher harzig beginnen wird. Die gute Neuigkeit dabei ist: Für langfristige Anleger dürften sich damit zunehmend interessante Opportunitäten eröffnen – und zwar sowohl bei Aktien als auch bei Anleihen. Während alles teurer wird und weltweit rekordhohe Inflation herrscht, hat an den Börsen der Ausverkauf begonnen. Zumindest eine Einkaufsliste sollte man jetzt zur Hand haben.       

Der CIO erklärt: Was heisst das für Anleger?

Der Bär meldet sich zurück. Noch zu Beginn des Jahres notierten viele Aktienindizes auf Allzeithochs. Seither haben die Börsen teilweise über 20 % an Wert eingebüsst. Damit befinden wir uns gemäss Börsenterminologie in einem Bärenmarkt. Ausgelöst wurde die Korrektur durch die stark steigenden Zinsen. Die restriktivere Geldpolitik führte zu einer allgemeinen Bewertungskorrektur. So wie die Flut alle Boote hebt, landen diese bei Ebbe nun auf dem sandigen Untergrund.

Für Anlegerinnen und Anleger ist diese Entwicklung schmerzhaft und leider wohl auch noch nicht ganz abgeschlossen. Das Positive daran: Die Korrektur bringt zunehmend Opportunitäten. Vor allem Anleiheinvestoren können dank dem starken Zinsanstieg nach einer jahrelangen Durststrecke wieder positive (nominelle) Renditen erwirtschaften. Und die Aktienbewertungen nähern sich den langfristigen fairen Niveaus an. Es lohnt sich jetzt, eine Einkaufsliste bereitzuhalten. Spätestens wenn der Ausverkauf in die zweite Runde geht, ist die Zeit für Schnäppchenjäger gekommen.

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz