Gefährliches Spiel – Die Notenbanken im Rausch

Weltweit zieht die Inflation an. Trotzdem halten die Notenbanken an ihrer expansiven Geldpolitik fest. Mit neuen flexibleren Inflationszielen haben sie sich selbst ihren geldpolitischen Spielraum erhöht. Die Finanzrepression wird damit verstärkt und die Umverteilung von Sparern zu Schuldnern geht weiter. Gleichzeitig steigen die Risiken an den Finanzmärkten. Ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.

Neue Inflationsziele lassen höhere Teuerungsraten zu

Nun also auch die Europäische Zentralbank (EZB): Die Notenbank mit Sitz in Frankfurt am Main, welche im Zuge der Einführung der europäischen Einheitswährung am 1. Juni 1998 gegründet wurde, führt ein neues Inflationsziel ein. Bisher galt die Richtlinie, dass die Währungshüter eine Inflation von nahe, aber unter 2% anstreben. Sobald die Inflation also über diese Marke stieg, musste die EZB gemäss den Vorgaben mit einer restriktiveren Geldpolitik der Teuerung entgegenwirken. Tempi passati. Ab sofort gilt ein «symmetrisches» Inflationsziel von 2%. Was auf den ersten Blick nach einer semantischen Nuance klingt, hat weitreichende Folgen: Inskünftig werden auch Inflationsraten von über 2% toleriert. Sie führen nicht mehr automatisch zu einer restriktiveren Geldpolitik. Damit folgt die EZB im Wesentlichen der US-Notenbank Fed. Diese hat bereits im vergangenen Jahr mit einem sogenannten «Average Inflation Targeting» neue Wege beschritten. In den USA soll die mittelfristige Inflation fortan im Durchschnitt 2% betragen. Das heisst, dass nach einer Phase von tiefer Teuerung temporär auch Inflationszahlen von deutlich über 2% akzeptiert werden.

Konsumentenpreisentwicklung USA

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Interessant ist der Zeitpunkt der Ankündigung. Nach dem Corona-bedingten Einbruch der Weltwirtschaft im vergangenen Jahr, hat mittlerweile eine starke Konjunkturerholung eingesetzt. Aufgrund einer massiven Nachfrageerholung, Lieferengpässen sowie steigender Rohstoffpreise gehen auch die Inflationszahlen durch die Decke. Damit wäre eigentlich die Zeit gekommen, die extrem expansive und auf eine Krisensituation ausgerichtete Geldpolitik schrittweise zurückzufahren. Mit den kurzerhand angepassten Inflationszielen fällt dieser Automatismus weg. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. 

Die Debatte um die Inflationsziele wird kontrovers geführt. Grundsätzlich stellt sich die Frage was man unter «Preisstabilität» versteht. Nach exaktem Wortlaut würde dies einer Inflation von 0% entsprechen. In der Tat sind stabile Preise in vielerlei Hinsicht erstrebenswert. Starke Preisschwankungen, in Form von Deflation oder Inflation, beeinträchtigen die wirtschaftliche Entwicklung. Auf der Unternehmensseite erschweren sie Investitionsentscheide und können zu Fehlallokationen von Kapital und Arbeit führen. Auch das Konsumentenverhalten wird durch starke Preisschwankungen tangiert. Zu guter Letzt können sie auch zu einer schrittweisen Umverteilung von Vermögen führen. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat diese Punkte im Fokus und begründet damit ihr (sinnvolles) Ziel einer Inflation zwischen 0% und 2%. 

2%-Ziel wurde in Europa kaum je erreicht

Dass die Fed und nun auch die EZB ihre Inflationsziele de facto erhöhen, hat verschiedene Konsequenzen. Zum einen kommt die Anpassung einer «Lizenz zum Gelddrucken» gleich. Selbst die seit Jahren massive Ausweitung der Geldmenge und die Einführung von Negativzinsen hat die Teuerung in Europa in den vergangenen Jahren nicht über die 2%-Grenze steigen lassen. Der Effekt der expansiven Geldpolitik auf die Teuerung konnte also in der Vergangenheit nicht (mehr) nachgewiesen werden. Dies ist aus den folgenden Gründen wenig erstaunlich: Seit der Jahrtausendwende sind diverse strukturelle, deflationäre Kräfte am Werk. Die drei wichtigsten Faktoren sind die Globalisierung, die Demografie und der technologische Fortschritt. Ziemlich wirkungslos verpuffte die expansive Geldpolitik auch im Nachgang der Immobilien- und Finanzkrise 2008/2009. 

Inflation in der EU seit 2007

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Der japanische Ökonom Richard Koo hat am Beispiel des Immobiliencrashs in Japan die Wirkungslosigkeit der Geldpolitik in Phasen einer Bilanzrezession einleuchtend beschrieben. Sinnbildlich ist es wie bei den Pferden, welche man zwar zum Brunnen führen kann; trinken müssen sie allerdings selbst. Wenn Unternehmen oder auch Privatpersonen nach einer Finanz- oder Wirtschaftskrise ihre in Schieflage geratenen Bilanzen in Ordnung bringen müssen, liegt der Fokus nicht auf Neuinvestitionen oder höheren Konsumausgaben, sondern auf der Stärkung des Eigenkapitals sowie dem Abbau der Schulden – und zwar unabhängig davon, ob Geld zum Nulltarif angeboten wird. 

Zum anderen bedeutet eine Inflation von 2% aus Konsumentensicht unter dem Strich nichts anderes als einen laufenden Kaufkraftverlust: Mit einem 100-Euro-Schein lassen sich im folgenden Jahr nur noch Produkte oder Dienstleistungen im Wert von 98 Euro einkaufen. Um diesen Wohlstandsverlust zu kompensieren, müssten die Löhne entsprechend jedes Jahr um mindestens 2% ansteigen. Unerfreulich sind die Ankündigungen auch für Sparer. Ihre Ersparnisse verlieren laufend an Wert. Genau diesen Effekt scheinen die Notenbanken anzustreben. Man spricht von finanzieller Repression. Negative Realzinsen spielen den stark verschuldeten Staaten, Unternehmen und Privatpersonen in die Hände – die Zeche bezahlen die Sparer. 

Die expansive Geldpolitik befeuert die Aktienmärkte

Um dem laufenden Vermögenswertverlust entgegenzuwirken, fliesst Geld in Sachwerte wie Aktien, Immobilien oder Edelmetalle. In Anlegerkreisen gilt das Motto: «Never fight the central banks». Das bedeutet nichts anderes, als dass Investoren unabhängig von Fundamentaldaten und Bewertungen hohe Risiken eingehen können, solange die Notenbanken Liquidität ins System pumpen. Bisher ist diese Strategie grösstenteils aufgegangen. Allerdings führt diese Entwicklung unweigerlich zu einem Anstieg der Vermögenspreise und birgt die Gefahr von Blasenbildung. 

Bilanzsumme der US-Notenbank Fed (in Milliarden US-Dollar), S&P 500 Index (in Punkten)

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Die Notenbanken spielen also mit dem Feuer. Sollten die Inflationszahlen weiter ansteigen und gar eine Lohn-Preis-Spirale einsetzen, werden sie reagieren müssen. Da eine entsprechende Reaktion – aufgrund der neuen flexibleren Inflationsziele – aber zwangsläufig (zu) spät kommen wird, müssten die Gegenmassnahmen umso drastischer ausfallen. Dass eine solche Kehrtwende nicht spurlos an den Finanzmärkten vorbeigehen würde, ist klar. Noch herrscht bei den Notenbankern demonstrative Gelassenheit. Fed-Chef Jerome Powell betont gebetsmühlenhaft, dass der Inflationsanstieg bloss temporär sei und man alles im Griff habe. Diese «Illusion of control» ist wohl eines der grössten Risiken für die Weltwirtschaft und die Finanzmärkte. Man kann nur hoffen, dass die Notenbanken mit ihrer Einschätzung richtig liegen.

Der CIO erklärt: Was heisst das für Sie als Anleger?

«Never fight the central banks» ist in Anlegerkreisen ein geflügeltes Wort. Konkret heisst das, man soll sich als Anleger nie gegen die Notenbanken positionieren, denn solange diese die Geldschleusen weit offen halten, geht es an den Börsen unaufhaltsam nach oben. Mit den neuen Inflationszielen haben die US-Notenbank und die Europäische Zentralbank klar gemacht, dass eine Abkehr von der expansiven Geldpolitik in weiter Ferne liegt – selbst wenn die Inflation (wie aktuell) deutlich ansteigt. 

Was die Notenbanken ausblenden, ist die Tatsache, dass damit Vermögenspreisblasen entstehen, welche letztlich das Finanzsystem instabiler machen. Auch wenn die Geldpolitik weiterhin Rückenwind für Aktien und Immobilien bringt, sollten Anleger die Fundamentaldaten nicht ausser Acht lassen. Die Bewertungen vieler Anlageklassen haben historische Extremwerte erreicht. Damit steigt auch das Rückschlagrisiko. Bei der Einzeltitelauswahl sollte der Fokus deshalb auf qualitativ hochstehende, bilanz- und margenstarke Werte gelegt werden. 

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz