Fazit: undefiniert

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Ausgabe 29.05.2019 – Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen

Martin Neff - Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft
Martin Neff – Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft

Wer sich von den Wahlen für das neue EU-Parlament definierte politische Machtverhältnisse oder gar ein eindeutiges Fazit erhofft hatte, dürfte enttäuscht sein. Europa lässt nach der Wahl vom Wochenende mehr Fragen offen als je zuvor. 427 Millionen Wahlberechtigte waren vergangenes Wochenende aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Sie taten dies fleissiger als auch schon. Die Wahlbeteiligung betrug im Schnitt aller 28 EU-Mitgliedsstaaten über 50% und verzeichnete endlich wieder mal einen Anstieg seit der ersten Europawahl im Jahre 1979.

Fazit 1 lautet daher: Die Zukunft Europas ist seinen Bürgern nicht mehr ganz so egal, wie das jüngst schien. So lag die Wahlbeteiligung z.B. in Deutschland bei über 60 %. Es gibt aber nach wie vor Länder, in denen die Stimmbeteiligung trotz spürbaren Anstiegs nur knapp ein Fünftel bis ein Viertel erreicht. Somit lautet Fazit 2: Nicht überall ist das Interesse an Europa gleich gross.

In den grossen Ländern haben die etablierten Parteien teils extreme Rückschläge erlitten. Die SPD in Deutschland verlor ganz massiv, aber auch die CDU musste Federn lassen. Die Grünen gewannen so viele Stimmen wie nie zuvor und sind nun klar zweitgrösste politische Kraft in unserem nördlichen Nachbarland. In Berlin sind die Grünen sogar auf Rang eins aufgestiegen, ebenso in anderen Grossstädten wie München, Hamburg oder Dortmund. Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland AfD legte ebenso zu. Sie konnte in Deutschlands Osten teilweise stärkste Kraft werden. Das Ergebnis lässt auf ein starkes Stadt-Landgefälle schliessen. In Frankreich verpasste Macrons Partei La République en Marche den Spitzenplatz. Den erklomm die rechtspopulistische Partei Rassemblement National von Marine Le Pen. Die Grünen in Frankreich kamen auf 13 %. Die traditionellen Volksparteien leiden in Deutschland wie schon viel früher in Frankreich an Schwindsucht. Es zieht die Wähler ins Grüne, aber auch nach rechts. Ziemlich nach rechts zieht es sie in Italien, wo die Lega mit über einem Drittel der Stimmen klarer Wahlsieger wurde. So gewannen zusammen mit der Fünf-Sterne-Bewegung nun die Europagegner die Überhand in Italien. Im Vereinigten Königreich erreichte die Brexit Party als Profiteur des aufgeschobenen Brexit fast ein Drittel der Stimmen, die EU-skeptische UKIP nur noch knapp vier Prozent. So lautet Fazit 3: Die Parteien, die Europa einst aufgebaut haben, werden es nicht weiterentwickeln. Das werden andere politische Kräfte (mit)übernehmen müssen. Und Fazit 4: In den grossen Volkswirtschaften ist die Europaskepsis, gemessen an den Zuwächsen der Rechtspopulisten, recht hoch. Das sollte man in Brüssel nicht runterspielen, nur weil man mit noch stärkeren Zuwächsen gerechnet hatte.

 

Europa eine lahme Ente

Auf konsolidierter europäischer Stufe werden die (traditionellen) Volksparteien der Konservativen bzw. Christdemokraten und Sozialdemokraten deutlich zurückgebunden. Sie verlieren ihr gemeinsames absolutes Mehr. Grüne und Liberale werden zu wichtigen Mitspielern, auf welche die Volksparteien in Zukunft angewiesen sind, wenn sie Mehrheiten formieren müssen. Fazit 5 lautet: Die Entscheidungsfindung dürfte im neuen EU-Parlament noch um einiges schwieriger werden. Das dürfte Reformen nicht beflügeln. Europa wird eher noch lahmer agieren als ohnehin schon. Die grossen Würfe zur Stabilisierung und erst recht Plausibilisierung der Währungsunion, sprich Fiskalunion oder gar politische Union, sind damit in noch weitere Ferne gerückt. Die Debatten werden in Brüssel noch länger werden, dafür umso lebendiger.

 

Europa ist ein Spiegel der Nationen

Die Europawahlen widerspiegeln eins zu eins die Zersplitterung der nationalen Politiklandschaften. Absolute Mehrheiten gibt es fast nirgends mehr. In gerade noch zwei Ländern, Ungarn und Malta, erreicht jeweils eine Partei über 50 % der Stimmen. In Ungarn ist es aber ausgerechnet die nationalkonservative und europafeindliche Partei Viktor Orbáns. In Italien, Österreich und Portugal kommt der Wahlsieger immerhin noch auf mehr als ein Drittel der Stimmen, in Polen erringen zwei Parteien jeweils mehr als ein Drittel. Etwas mehr als dreissig Prozent, aber weniger als ein Drittel der Stimmen schafften die Wahlsieger Bulgariens, Griechenlands, Spaniens und Grossbritanniens. In allen andern Ländern liegen die Wähleranteile unter 30 %, teils sogar deutlich tiefer. In Belgien (13.5 %), den Niederlanden (18.9 %) und Litauen (19.6 %) schafft die stärkste Partei nicht einmal ein Fünftel der Stimmen. Fazit 6 lautet: Europas Politlandschaft wird immer heterogener, nicht gerade förderlich für die europäische Einheit.

 

Nichtwähler sind die stärkste «Partei»

Trotz eitler Freude über die gestiegene Wahlbeteiligung darf man nicht ausser Acht lassen, dass in Europa insgesamt die Nichtwähler bei weitem den grössten Anteil ausmachen. Zwar ging die Hälfte (50.94%) zur Wahl, die andere Hälfte aber nicht. Nur noch in ganz wenigen Ländern der EU-28 kommt die stärkste Partei auf prozentual mehr Stimmen als Nichtwähler ausmachen. Selbstredend in Malta und Ungarn, wo noch absolute Mehrheiten existieren und in Polen mit seinen zwei dominierenden Parteien. Dann folgt Belgien, wo die Wahlbeteiligung europaweit traditionell am höchsten liegt und dieses Jahr 88,47 % betrug. Dort gingen folglich 11.53 % nicht an die Urne. Die stärkste Partei Belgiens an den Europawahlen, die liberal konservativen Separatisten der N-VA (Nieuw Vlaamse Alliantie) schaffte mit 13.47 % knapp etwas mehr Stimmen zu erobern als der Nichtwähleranteil betrug. In Luxemburg (Wahlbeteiligung 84.1 %) liegen gleich drei Parteien über dem Nichtwähleranteil. Doch das war‘s dann auch. In allen anderen Ländern lag der Nichtwähleranteil höher als der Wähleranteil der stärksten Partei. Deshalb Fazit 7: Die Atomisierung der alten politischen Stabilitäten macht die Gleichgültigen, Desinteressierten und/oder Politmüden zur stärksten Kraft. Und so bleibt Europa nach der Wahl, was es schon zuvor immer war. Vage, undefiniert und uneinig.

 

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