Aktienmärkte auf Steroiden – Die Gefahren werden ausgeblendet

Über Jahre hinweg expansive Notenbanken haben die Zinsen in den Keller und die Bewertungen in luftige Höhen getrieben. Wegen mangelnder Anlagealternativen sind die meisten Anlageklassen betroffen. Zugenommen haben aber auch die Risiken. Das ist gefährlich, vor allem weil diese kurzfristig gerne ausgeblendet werden. Ein auf das persönliche Risikoprofil zugeschnittene Anlagepolitik ist umso wichtiger.

Korrektur mit Ansage, die Börsen haben die Probleme kommen sehen

Plötzlich kracht es. Evergrande ist in aller Munde. Der chinesische Immobilienkonzern hat dank niedriger Zinsen massiv Schulden aufgebaut, nun geht ihm die Liquidität aus. Panik macht sich breit. Der Aktienkurs lässt nichts Gutes erahnen. 

Aktienkurs Evergrande seit Anfang Jahr, in Hongkong-Dollar

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Das Beispiel verdeutlicht, was es heisst, wenn an den Börsen die Stimmung umschlägt. Trotz allem dürfte 2021 ein gutes Anlegerjahr werden, einmal mehr. Die Wirtschaftserholung dominiert, Gefahren werden ausgeblendet, einmal mehr. Den Notenbanken sei Dank. Egal ob Immobilien-, Finanz-, Euro-, oder vergangenes Jahr die Coronakrise: Die Währungshüter sorgten stets für niedrige Zinsen und fluteten die Wirtschaft mit billigem Geld, einmal mehr. Die Börse sieht darin ein Allerheilmittel. Allerdings ist daraus inzwischen eine Droge geworden und die Wirtschaft ist abhängig. Allein die Angst vor einer strafferen Geldpolitik löst am Markt Entzugserscheinungen aus. Das System ist aus dem Gleichgewicht.

Dabei ist das Gleichgewicht der dominierende und gewünschte Zustand einer offenen Wirtschaft. Grundsätzlich strebt alles Richtung Gleichgewicht, auch wenn sich dieses temporär auch einmal verschieben kann. Die Balance findet sich von selbst. Der schottische Ökonom Adam Smith sprach vor über 200 Jahren von der unsichtbaren Hand. Angebot und Nachfrage finden sich dort, wo das Geschäft für Käufer und Verkäufer einen Mehrwert schafft. Der Tausch innerhalb der Wirtschaft geschieht freiwillig, eine Intervention durch den Staat oder einen anderen Marktteilnehmer ist nicht nötig. 

Staatliche Unterstützung hilft, löst aber das Problem nicht

An den Börsen trifft das nicht mehr zu. Der Markt ist schon lange gestört, Smith’s Aussagen verletzt. Die Zinsen werden seit Jahren künstlich tief gehalten. Weil die Interventionen der Notenbanken nicht in die Milliarden, sondern in die Billionen gehen, hat sich das Problem potenziert. Zu denken, dass das langfristig ohne Folgen bleibt, ist leichtsinnig und nur kurzfristig gedacht. Seit der Finanzkrise 2008/09 pumpen die Notenbanken weltweit schier unendlich viel Geld in die Wirtschaft, um sie am Leben zu erhalten. Der Grat wird immer schmaler. Auch wenn das nicht unmittelbar zum Absturz führen muss, die Gefahren nehmen zu. Nur weil Investoren die Risiken ausblenden, heisst das nicht, dass sie nicht existieren. 

Bilanzsumme der US-Fed, in Billionen US-Dollar

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Und sie werden ihre Wirkung entfalten, früher oder später, auf die eine oder andere Art. Evergrande war nur der Vorgeschmack. Wahrscheinlich ist, dass sich die vorhandene Imbalance in Zukunft in Form einer schwächeren Rendite und höheren Schwankungen äussert. Historisch bewegen Aktienrenditen um einen langfristigen Mittelwert. Für den Schweizer Markt liegt dieser zwischen 8% und 9%, für den US-Markt zwischen 10% und 11%. 

Von der langfristigen Erwartung ist der SPI weit entfernt

Der Blick auf die vergangenen Jahre zeigt diese Verzerrung. Wer Ende 2011, also vor knapp zehn Jahren in den breiten Schweizer Markt, gemessen am Swiss Performance Index (SPI) investierte, verbuchte eine jährliche Rendite von durchschnittlich 11.7%, im breiten US-Markt (S&P 500) waren es gar 15.1%. Diese Renditeabweichungen untermauern die Aktienhausse der vergangenen Jahre. 

Um wieder in Richtung des langfristigen Durchschnitts zu gelangen, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Erstens, indem sich Investoren während der kommenden Jahre mit einer niedrigeren Rendite abfinden, oder zweitens, indem eine starke Korrektur die Missstände bereinigt. Natürlich muss das nicht unmittelbar geschehen, aber die Entwicklung an der Börse ist keine Einbahnstrasse. 

Renditeentwicklung Swiss Performance Index (SPI), in Punkten

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Gegen einen radikalen Ausverkauf spricht das Verhalten der Notenbanken. Sie sind sich der Gefahren bewusst, welche ein Börsencrash hätte. Und das wollen sie unter allen Umständen vermeiden. Zu stark sind die verschiedenen Wirtschaftszweige ineinander verzahnt. Trotzdem ist gerade der Vergleich mit den Roaring Twenties, den goldenen Zwanzigern, eindrücklich: Die Kursentwicklung des Dow Jones Index seit 2012 zeigt klare Parallelen mit derjenigen des vergangenen Jahrhunderts, die schnurstracks in die Weltwirtschaftskrise führte. Seit Jahren klettern die Aktienmärkte fast ohne Halt von einem Hoch zum Nächsten. Selbst die Corona-Krise, die zur stärksten Rezession seit Jahrzehnten führte, konnte den Trend nicht stoppen. Der Begriff der «Roaring Teens» drängt sich auf. Umso wichtiger ist es deshalb, sich der Risiken bewusst zu sein. Auch wenn niemand die Zukunft vorhersagen kann, so weiss man heute, dass die Ernüchterung vor gut 90 Jahren enorm war. Auf den Höhenflug folgte eine Kurskorrektur von 90%.

Wohl noch grösser ist die Gefahr am Zinsmarkt. Ein erneutes «Taper Tantrum» wie im Jahr 2013 soll vermieden werden. Damals führte allein die Ankündigung, dass die expansive Geldpolitik reduziert werden solle, zur Panik und zu einem Hochschnellen der Renditen. Innert weniger Monate hatten sich die Zinsen für 10-jährige US-Staatsanleihen von 1.6% auf gut 3% beinahe verdoppelt. Für Anleger, die eine Anleihe mit einer entsprechenden Laufzeit hielten, bedeutete das einen zweistelligen Kursverlust. Das eigentlich gefährliche ist aber, dass das gesamte Wirtschaftssystem daran hängt. Höhere Zinsen bedeuten schliesslich auch, dass die Refinanzierungskosten der Staaten sowie der Unternehmen steigen und sie deshalb in Bedrängnis kommen können. Aktienmärkte leiden, weil festverzinsliche Anlagen wieder eine Alternative darstellen. 

Auch wenn ein Absturz im Stil der späten 1920er Jahre nicht zu erwarten ist, sollten Anleger im aktuellen Umfeld eine gewisse Vorsicht walten lassen. Deshalb kommt der Bestimmung des Risikoprofils künftig eine noch grössere Bedeutung zu als ohnehin schon. So sind Börsenneulinge oft mit Verlusten wenig vertraut. Gerade in einem steigenden Markt überschätzen Investoren ihre Risikofähigkeit und geraten bei rutschenden Kursen schnell in Panik und beschleunigen so durch Verkäufe die Abwärtsbewegung. 

Dass der Wert eines Portfolios auch einmal taucht, gehört zum Investieren dazu. Oft ergeben sich in solchen Situationen aber attraktive Einstiegschancen. Um diese zu nutzen kann es deshalb sinnvoll sein, einen Teil der Gewinne zu realisieren. Nur dann besitzt man die Möglichkeit, im Falle einer Korrektur zu günstigen Kursen wieder einzusteigen. Auch wenn das einen gewissen Mut und antizyklisches Verhalten voraussetzt. Helfen kann dabei eine vielzitierte Börsenweisheit der Investorenlegende Warren Buffett: «Sei ängstlich, wenn andere gierig sind und sei gierig, wenn andere ängstlich sind.» 

Der CIO erklärt: Was heisst das für Sie als Anleger?

Wer im Casino nach einem Gewinn einige Chips vom Tisch nimmt, geht auf Nummer sicher. «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach», sagt der Volksmund. Das gilt auch an der Börse. Wer Gewinne realisiert, wandelt einen Buchgewinn in einen realen um. Aktuell handeln viele Börsen auf oder nahe von Rekordständen. Das verdanken sie vor allem der expansiven Geldpolitik der Notenbanken. Allerdings verdichten sich die Anzeichen, dass diese nun zunehmend restriktiver wird. Damit dürften auch die Schwankungen – wie in den letzten Tagen gesehen – erhöht bleiben. Anlegerinnen und Anlegern empfehlen wir daher, antizyklisch auch einmal einen Gewinn zu realisieren. 

Gleichzeitig eröffnen sich aufgrund der Kursschwankungen immer wieder interessante Kaufgelegenheiten. Davon haben wir in unserer Anlagetaktik Gebrauch gemacht und einige Anpassungen vorgenommen: Bei Schwellenländeraktien und Gold – beide Anlageklassen weisen in diesem Jahr eine schwache Rendite auf – haben wir zugekauft. Auf der anderen Seite realisieren wir bei Schweizer Immobilienfonds einen Teil der Gewinne. Weiterhin halten wir in den Mandaten ein Liquiditätspolster. Dadurch sind wir in der Lage, rasch auf sich bietende Opportunitäten zu reagieren. 

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz