Wo der Teufel hinmacht

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Ausgabe 08.05.2019 – Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen

Martin Neff - Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft
Martin Neff – Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft

Das Jahr 2018 war ein konjunkturelles Ausnahmejahr für die Schweiz. Es war schliesslich schon wieder ein Weilchen her, dass die hiesige Wirtschaft gut 2,5 % zugelegt hatte. Die Schweizer Wirtschaft profitierte im vergangenen Jahr vor allem von der globalen Konjunkturdynamik, insbesondere natürlich dem Aufschwung in Europa. 2018 war zudem das Jahr, in welchem die ärgsten Folgen des Frankenschocks überwunden werden konnten. Es herrschte Vollbeschäftigung, und es wurden beachtlich viele neue Stellen geschaffen. Die Arbeitslosenquote lag im Jahresdurchschnitt bei ausserordentlich tiefen 2,6 %. Dass die Inflationsrate in diesem Umfeld gerade mal 0,9 % betrug, hätte man vor einigen Jahren kaum für möglich gehalten.

Von einer Lohn-Preis-Spirale ist trotz guter Makrolage also noch keine Spur zu sehen. Im Gegenteil: im konjunkturellen Ausnahmejahr 2018 resultierte ein Reallohnrückgang (!) um 0,4 %, da die nominellen Löhne nur um bescheidene 0,5 % stiegen. Nun muss man berücksichtigen, dass die (nominellen) Jahreslöhne nicht am Ende des laufenden, sondern in der Regel gegen Ende des vorhergehenden Jahres festgelegt werden. Die Aussichten waren Ende 2017 aber auch schon recht rosig, weshalb der Reallohnrückgang nicht etwa konjunktureller Unsicherheit geschuldet ist, sondern höchst wahrscheinlich auch der Tatsache, dass sich die Margen gerade in der Industrie damals noch gehörig unter Druck befanden. Und einmal mehr sagt der Durchschnitt wenig aus. Es gab zwar auch detailliert betrachtet keine grossen Sprünge, aber durchaus einige bemerkenswerte Entwicklungen.

 

Matthäus-Effekt

In 8 von 26 ausgewiesenen Branchen wurde 2018 ein Reallohnplus verzeichnet. Einmal mehr fällt auf, dass sich darunter fast alle Branchen befinden, in denen ohnehin bereits vergleichsweise hohe Löhne bezahlt werden, namentlich die Pharmaindustrie, Finanz- und Versicherungsdienstleister, das Verlagswesen inklusive audiovisuelle Medien, Rundfunk und Telekommunikation. Letztere werden allesamt unter einem Hut zusammengefasst, es dürften aber eher die Telekomfirmen und allenfalls der Rundfunk sein, die den Branchenschnitt für 2018 nach oben ziehen. Das Verlagswesen befindet sich bekanntlich unter ziemlichem Ertragsdruck, weshalb die Löhne dort keine grossen Sprünge gemacht haben dürften. Es gibt zwar auch Ausnahmen, sprich Branchen mit absoluten Toplöhnen aber mit aktuellem Reallohnrückgang, doch sind die in der Minderheit. Und es gab auch eher schlechter zahlende Branchen, die ihren Angestellten ein leichtes Reallohnplus zubilligten. Doch fiel dies höchst bescheiden aus. Im Detailhandel etwa resultierte ein Reallohnplus von kaum spürbaren 0,1 %. Wenn man sich vor Augen führt, dass dort 10 % des Personals nur gerade 3'500 Franken im Monat verdienen, verleiten diese 3 Franken und 50 Rappen mehr im Monat kaum zu einem Konsumrausch. «Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat», lautet der entsprechende Satz dazu im Matthäusevangelium. Oder die sprichwörtliche Variante: «Wer hat, dem wir gegeben». Die derber Variante dazu lautet übrigens: «Der Teufel scheisst immer auf den grössten Haufen».

 

Mut zum Alleingang

Man muss kein Gewerkschaftler sein, sondern nur schon Ökonom, wenn man diese Entwicklung etwas kritisch hinterfragt. Zwar hat sich gemäss Lohnstrukturerhebung, die auf Daten des Jahres 2016 beruht, das Lohngefälle nicht erhöht, es hat sich aber auch nicht verbessert. Die zehn Prozent Topverdiener erzielen heute ein Einkommen (CHF 11'406.–/Monat), das dem 2,6-fachen der 10 Prozent am tiefsten Bezahlten (CHF 4'313.–/Monat) entspricht. Frauen verdienen in vergleichbaren Positionen nicht nur nach wie vor deutlich weniger als Männer, ihre Position auf der Lohnskala verschlechtere sich 2018 auch gegenüber dem sogenannt starken Geschlecht, wenn auch nur infinitesimal. Doch um die Verteilung geht es hier gar nicht, sondern vielmehr darum, dass die Löhne schon länger nicht (mehr) zwingend die Wertschöpfungsintensität einer Branche und deren Entwicklung widerspiegeln. So gibt es noch immer Spitzenverdienste in der Wirtschaft, die mit dem Argument der Branchenüblichkeit gerechtfertigt werden, obwohl die Wertschöpfung in der Branche – auch pro Kopf – seit längerem stagniert oder sogar stark rückläufig ist. Dass in der öffentlichen Verwaltung (–0,6 %) und staatsnahen Branchen wie dem Gesundheitswesen (–0,4 %) die Reallöhne leicht über dem Schnitt oder durchschnittlich zurückgingen, ist immerhin ein Zeichen, dass die Bäume auch da nicht mehr zum Himmel wachsen. Es würde der Wirtschaft insgesamt aber anstehen, den Lohnempfängern ein bisschen mehr vom erwirtschafteten Kuchen zuzuteilen und nicht allein die Eigentümer und Topmanager fürstlich auszustatten. Eben erst wurde bekannt, dass die SMI-Firmen rekordhohe Dividenden ausschütten. Wer in der reichen Schweiz mehr als vierzig Stunden in der Woche arbeitet, meistens noch einen Zusatzjob hat und doch nicht der Erwerbsarmut entrinnen kann, der wird sich schon früher oder später fragen, ob es überhaupt noch einen Sinn hat, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. In Europa ist das schon vielerorts der Fall. Wenn man zudem berücksichtigt, dass die Unternehmen gleichzeitig ihre Aktionäre mit rekordhohen Dividendenzahlungen bei Laune halten und die Managerlöhne auch zulegen, sollten wir uns fragen, ob dies dem Arbeitsfrieden, dem hierzulande eine viel grössere Bedeutung zukommt, als sonst wo in der Welt, dienlich ist. Wieso nicht auch hier einen Alleingang in Europa wagen?

 

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