Einfach einmal verzichten

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Ausgabe 02.09.2020 – Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen

Martin Neff - Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft
Martin Neff – Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft

Letzte Woche gab das Staatsekretariat für Wirtschaft (SECO) seine Quartalsschätzungen für die Schweizer Wirtschaft ab. Da die meisten grossen Volkswirtschaften ihre Zahlen schon davor publiziert hatten, hatte sich bereits abgezeichnet, dass der Einbruch hierzulande nicht ganz so schlimm ausfallen würde, wie ursprünglich befürchtet worden war. Doch auch unter diesen Prämissen sind die Zahlen immer noch grottenschlecht. 

Gemäss SECO Schätzungen ist die Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal 2020 gegenüber dem Vorquartal um 8.2 % eingebrochen, nachdem sie im ersten Quartal 2020 schon einen Rückgang um 2.5 % gegenüber dem Vorquartal verzeichnet hatte. Seit Beginn der Aufzeichnung von Quartalszahlen im Jahr 1980 war dies der stärkste je gemessene Einbruch. COVID-19 hat der Schweizer Wirtschaft somit bislang einen Dämpfer von 10.5 % verpasst. Das tut zweifellos weh und es ist kaum ein Trost, dass es noch hätte schlimmer kommen können.

Nichtsdestoweniger hat sich die hiesige Wirtschaft immerhin noch besser behauptet als die meisten andern Industrieländer. In Deutschland etwa betrug der Rückgang des Bruttoinlandproduktes im 2. Quartal 9.7 %, in Belgien 12.1 %, in Italien 12.8 %, in Frankreich 13.8 % und Spanien sogar 18.5 %. Auf die EU hochgerechnet resultierte ein Taucher der Wirtschaftsleistung um 12.1 %. Auch Schweden schnitt besser ab als der EU-Durchschnitt, die Wirtschaftsleistung ging dort im 2. Quartal 2020 «nur» um 8.6 % zurück. Das «nur rührt daher, dass sich Schweden damit eigentlich bestätigt sah, das Richtige getan zu haben, indem es seiner Wirtschaft namentlich keinen kompletten Shutdown verordnet hatte. Nachdem nun aber sowohl Finnland, Dänemark und auch Norwegen besser abschnitten als Schweden, war es mit deren Genugtuung schnell vorbei. Rasch gelangte wieder ins Bewusstsein, dass Schweden eine der weltweit höchsten Corona-Todesraten ausweist und der beschrittene Weg – wie sich nun zeigte – auch wirtschaftlich nicht den erhofften Erfolg brachte.

 

«Neulandroutine»

Zweistellige Wachstums- geschweige denn Schrumpfungsraten begegneten mir in meiner Karriere als Marktbeobachter noch nie und ich bin sicher, es geht den meisten anderen Konjunkturbeobachtern gleich. Zudem ist COVID-19 das, was man als exogenen Schock bezeichnet. Der hat zwei ganz heikle Eigenschaften: erstens kommt er unverhofft und plötzlich und zweitens ist sein Schadensausmass unbekannt, da neu. Wir haben es also mit einem noch nie dagewesenen Phänomen zu tun und doch betreiben viele das Geschäft der Analyse und Prognose wie immer. Es gibt tatsächlich auch heute noch die Unverbesserlichen, die behaupten, ihre Prognosen auf hervorragend kalibrierten Modellen aufzubauen. Und – man höre und staune – das Modell hätte Corona ganz gut antizipiert. Wer's glaubt! Ein Modell ist bekanntlich ein möglichst treues Abbild der Wirklichkeit. Es wird nie richtig gut, aber zumindest besser mit der Anzahl der Beobachtungen, die man einspeist. Wie aber, frage ich mich, soll man ein Modell von etwas bauen, das man noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hat? Welche Beobachtungen, geschweige denn Annahmen baut man denn da überhaupt ein? Und selbst wenn man mit ein zwei Dummy Variablen die Prognosegüte vielleicht soso lala wahren kann, hat man keinen Schimmer, wie die Wechselwirkungen im Modell ausfallen und wie sie überhaupt zustande kommen. Ohne Erklärungsgehalt gibt es aber auch keine Handlungsempfehlungen an die Politik, zumindest sollte es keine geben. Doch da die Menschheit nur so lechzt nach Lösungen aus der Krise, haben wir es mangels wahren Expertentums inzwischen mit einer Inflation von Erklärungen und Empfehlungen zu tun, eine skurriler als die andere. Sie alle sind entstanden aus einem Wissensvakuum, das aber nichts anderes als systemimmanent ist, wenn unverhofft Neues in unsere Leben tritt. Denn Unsicherheit öffnet Tür und Tor für Spekulationen aller Art, wie den solchen. «Ein chinesischer Staatskomplott brachte uns das Virus oder die Wall Street war es, Malariamittel oder die Injektion von Desinfektionsmittel könnten Abhilfe gegen Corona schaffen, das Virus ist kaum schlimmer als eine harmlose Grippe» und ähnlicher, offensichtlicher Mist kursiert im Netz und in den Köpfen der Leute. Ein Glück, dass inmitten solcher Unwägbarkeiten wenigstens meine Branche die Übersicht behält.

 

Drei Phasen Wissenschaft

Corona zeigt uns in vier Phasen, was immer geschieht, wenn Ökonomen auf dem falschen Fuss erwischt werden. So geschehen Anfang März des Jahres. In Phase eins teilt sich die überraschte Analystenschar in ein Lager von Weltuntergangspropheten und eines von Verharmlosern. Deren beider Mut zu Extremstandpunkten wird insofern belohnt, als ihnen zumindest mediale Aufmerksamkeit und ein Rampenlicht gewiss ist. Leid oder Trost sind schliesslich als Schlagzeilen besser zu vermarkten als müder Konsens oder ein gar ehrliches Statement wie «ich weiss es auch nicht so genau». In Phase 2, in welcher wir uns nun bewegen, wird die aktuelle Lage genau analysiert, wofür nun ja erstes aktuelles Datenmaterial bereits steht, denn wir kennen immerhin das bisherige Ausmass des Konjunktureinbruchs. Und da dieses so extrem war, wie es keiner vermutet hätte, tritt nun die Phase drei ein, die

geleitet vom Prinzip Hoffnung Platz für allerlei Fantasien lässt. Nach oben notabene, ein noch schlimmerer Absturz wird kategorisch geleugnet. Zwei schwarze Schwäne? Gibt es nicht! Wir beginnen lieber mit dem Buchstabensalat. Welchen Aufschwung hätten Sie denn gern? Ein V, ein U, ein W, ein L, wobei letzterer ja gar keiner ist? Das Alphabet wurde schon nach dem Subprimecrash 2008/09 bemüht, man verfügt also über entsprechendes Anschauungsmaterial. Nur dass sich das nicht vergleichen lässt. Denn während man den exogenen Schock im Jahre 2009 als definitiv vergangen betrachten konnte, ist dies heute nicht der Fall. Deshalb tritt nun Phase drei in Kraft. Die Prognosen werden abgelöst durch Szenarien. Die sehen dann z.B. so aus: Zweite Welle nein, Wahrscheinlichkeit für V grösser als 75 %. Zweite Welle ja, Wahrscheinlichkeit für W steigt, die für U liegt bei über 50 %. Lassen wir das, denn es gibt wahrscheinlich noch viel mehr solcher potenzieller Szenarien, die alle mit «wenn…, dann…Rhetorik» operieren. Richtig befriedigend ist das aber nicht. Vielleicht sollten wir Ökonomen mal an eine Phase vier denken. In Phase vier herrscht Paralyse in der Zunft, niemand weiss mehr so richtig weiter. Zeit, dies mal einzugestehen, denn die ersten drei Phasen haben schon genug gekostet. So viel, dass unsere Kindeskinder noch lange abstottern werden, was wir heute so grosszügig und unkonventionell an Mitteln gesprochen haben – mit inbrünstiger Überzeugung. Wenn ein Ökonom Verzicht predigt, macht er sich keine Freunde in der Gilde. Dabei ist das die einzige Gewissheit, die wir haben. Mit Verzicht kommen wir am besten raus aus der Krise, auch aus der.