Zwischen Angst und Gier – Anlegen im Bann der Emotionen

Angst und Gier dominieren das aktuelle Börsengeschehen. Während verunsicherte Anleger auf Gold setzen, kaufen Optimisten Aktien. Die Volatilität, ein Zeichen der Angst unter Anlegern, ist erhöht. Ein Grund dafür: Realwirtschaft und Aktienkurse haben sich entkoppelt. Langfristig orientierte Anleger sollten sich vom ständigen Auf und Ab an den Börsen aber nicht verunsichern lassen, sondern an ihrer Anlagestrategie festhalten.

Die Bären dominieren – Trotz Erholung keine Entspannung

Die Börse folgt eigenen Gesetzen. Getrieben wird sie oft von den Gefühlen der Anleger. Diese übernehmen besonders in kritischen Phasen das Steuer. Im Fokus: Angst und Gier. Sie stehen in einer Wechselbeziehung zueinander und treiben die Kurse an der Börse – oder strafen sie ab. Die gierigen Bullen setzen auf Aktien, erwarten steigende Kurse und eine rasche Erholung der Konjunktur. Dem gegenüber stehen die ängstlichen Bären. Sie sind zurückhaltend, kaufen Gold und halten Liquidität. Im aktuellen Umfeld haben die Bären die Oberhand.

Investoren haben Angst vor den wirtschaftlichen Langzeitfolgen des Lockdowns, vor einer zweiten Welle der Corona-Pandemie und fürchten wohl auch einen erneuten Einbruch der Aktienmärkte. Und wenn dieser nicht kommt? Dann kommt die Angst auf, Rendite zu verpassen und so drohen die Bären plötzlich gierig zu werden. 

Marktsentiment, Bull-Bear-Spread

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Gierige Investoren treiben den Markt – Aktienmarkt entkoppelt sich von der Realwirtschaft

Aber wie lassen sich solche Bauchgefühle messen? Einen Versuch unternahm das Nachrichtenportal CNN Money mit der Lancierung des Fear & Greed Index. Verschiedene Faktoren, wie beispielsweise Risikoprämien, Put-Call-Verhältnis und Volatilität, fliessen in dessen Berechnung ein. Laut dem Index halten sich Angst und Gier im Moment ziemlich die Waage. Gierige Tendenzen finden sich derzeit etwa bei Anleihen mit einem schwachen Kreditrating. Die von Anlegern geforderte Risikoprämie für Ramschanleihen verglichen mit Investment Grade-Obligationen liegt mit 2.1% deutlich unter dem Schnitt der vergangenen zwei Jahre. Ein weiteres Beurteilungskriterium ist die Differenz zwischen dem aktuellen Stand des S&P 500 Index und seinem 125-Tage-Durchschnitt. Der aktuelle Indexstand liegt rund 9% über diesem, was für gierige Tendenzen spricht 

S&P 500 Index und 125-Tage-Durchschnitt

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Diesen Eindruck erweckt auch das Put-Call-Verhältnis: Um die Börsenstimmung zu quantifizieren, werden die Verkaufsoptionen (Put) zu den Kaufsoptionen (Call) ins Verhältnis gesetzt. Je höher der Wert, umso negativer ist die Marktstimmung. Da Investoren im Schnitt positiv eingestellt sind, gilt ein ausgeglichenes Verhältnis von 1 bereits als negatives Zeichen. Über die vergangenen fünf Jahre lag das Put-Call-Verhältnis im Schnitt bei 0.64, aktuell notiert der Indikator bei 0.56. Anleger sind also optimistisch und rechnen mit steigenden Kursen. 

Dass aber gleichzeitig auch die Angst an der Börse ausgeprägt ist, zeigt sich am Volatilitätsindex VIX. Dieser misst den Grad der Schwankungen bei den Aktienkursen und wird auch als Angstbarometer bezeichnet. Der aktuelle Stand verdeutlicht, dass unter den Anlegern noch keine Ruhe eingekehrt ist. Im mehrjährigen Vergleich ist die Volatilität fast doppelt so hoch wie zu Beginn der Corona-Krise. 

Angst ist ein Grundgefühl, das durch eine Bedrohung entsteht und Sorgen weckt. Das Positive daran: Angst warnt vor Risiken. Gefahr geht also eher von der Gier aus. Es gibt Studien, die besagen, dass Gier die Fähigkeit besitzt, im Gehirn Prozesse auszulösen, die den gesunden Menschenverstand aushebeln. Das äusserst ausgeprägte Streben nach Mehr wird bisweilen auch als Sucht beschrieben. Wie bei jeder anderen Sucht will der Betroffene immer mehr. Gerade die Phase ab März, als sich die Börsen wieder deutlich zu erholen begannen, verleitete viele Anleger dazu, auf den fahrenden Zug aufzuspringen und hohe Risiken einzugehen. Schliesslich will jeder von den steigenden Kursen profitieren. An der Börse nährt sich die Sucht somit bis zu einem gewissen Grad selber. Erst wenn die Angst übernimmt, naht an der Börse das Ende der Aufwärtsbewegung. Rückblickend wird dann vieles klar. «Wie konnte ich das bloss übersehen», fragt sich dann so manch ein Investor.

Nur wenige sichern sich ab – weil das bei hoher Volatilität teuer ist

Als Anleger steht man also vor der Herausforderung, seine Anlageentscheide nicht zu stark von Gefühlen leiten zu lassen. So lässt sich etwa das Put-Call-Verhältnis auch anders interpretieren. Obwohl ein niedriges Put-Call-Verhältnis die gute Stimmung an den Börsen unterstreicht, kann es auch antizyklisch als Verkaufssignal interpretiert werden. Dabei wird ganz gezielt gegen den Markt gewettet. Das ist nicht immer einfach und kann die Gefühlswelt bisweilen durcheinander bringen.

Put-Call-Verhältnis (CBOE)

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Tatsache ist aber, dass die Aktienmärkte oft nach einem niedrigen Put-Call-Verhältnis korrigieren. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, wie rasch die Stimmung an den Börsen kippen kann. Eine ähnliche Interpretation ist bei der Volatilität denkbar. Das hat schon der Bankier Carl Mayer von Rothschild vor rund 200 Jahren festgehalten: «Kaufen, wenn die Kanonen donnern, verkaufen, wenn die Violinen spielen.»

Weitere Aspekte, mit denen sich Anlegergefühle steuern lassen, sind festgelegte Ein- und Ausstiegszeitpunkte. Gerade beim Aufbau eines Wertschriftenportfolios lassen sich Einstiegskurse glätten, wenn über einen bestimmten Zeithorizont an definierten Tagen investiert wird. Der angestrebte Anlagehorizont ist dabei das wohl wichtigste Kriterium. In Angstphasen neigen Investoren dazu, ihre Anlagegrundsätze über Bord zu werfen. Das ist falsch, denn rückblickend entpuppen sich Krisen in der Regel als Kaufgelegenheiten.

Der CIO erklärt: Was heisst das für Sie als Anleger?

Die traditionellen Wirtschaftstheorien basieren auf dem rational handelnden und vollständig informierten Homo oeconomicus, welcher stets bestrebt ist, seinen persönlichen wirtschaftlichen Nutzen zu optimieren. In Wahrheit ist das menschliche Verhalten aber um einiges komplexer.

2002 erhielten die Professoren Daniel Kahneman und Vernon Smith den Nobelpreis für ihr Konzept der Verhaltensökonomik, welches auch Emotionen und kognitive Verzerrungen der Wirtschaftsakteure berücksichtigt. Auch in der Anlagepolitik von Raiffeisen fliessen solche Faktoren mit ein. Neben den traditionellen Fundamentaldaten (Konjunktur, Bewertungen, Geld- und Fiskalpolitik) analysieren wir laufend eine Vielzahl von Sentiment-Indikatoren sowie charttechnische Faktoren. Vor allem wenn an den Märkten sehr ausgeprägte und einseitige Emotionen vorherrschen, lohnt es sich nämlich oft, die gegenteilige Position einzunehmen. Denn Übertreibungen – egal auf welcher Seite – tendieren immer dazu, wieder korrigiert zu werden.

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz