Die grosse Zinswende – und ihre Konsequenzen

Die Zinswende nimmt Fahrt auf. Aufgrund der rekordhohen Inflation erhöhen die Notenbanken rund um den Globus ihre Leitzinsen. Die höheren Zinsen haben zu einer Bewertungskorrektur an den Finanzmärkten geführt. Der geldpolitische Gegenwind wird bis auf Weiteres anhalten.

Das achte Weltwunder – Wie sich der Zinseszinseffekt auswirkt

Albert Einstein soll den Zinseszinseffekt einst als das achte Weltwunder bezeichnet haben. Sagt man. Und falls es doch nicht so war: «Se non è vero, è ben trovato». Zu Deutsch: Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden. Aber wie auch immer. Eindrücklich ist der Effekt so oder so. Eine Investition von 100'000 Schweizer Franken, welche beispielsweise mit 5% verzinst wird, erfährt über die Zeit eine exponentielle Entwicklung.

Vermögensentwicklung einer Investition von 100'000 Franken bei einem Zins von 0 % vs. 5 %

Quelle: Raiffeisen Schweiz CIO Office

Damit der Zinseszinseffekt zum Tragen kommt, braucht es aber einen positiven Zins, was zu Einsteins Zeiten auch üblich war. In den vergangenen rund acht Jahren sah die Zinslandschaft in der Schweiz und in Europa allerdings ganz anders aus. Um die Wirtschaft anzukurbeln, die hochverschuldeten Staaten zu entlasten sowie eine drohende Deflation zu bekämpfen, hat die Europäische Zentralbank (EZB) im Jahr 2014 Negativzinsen eingeführt. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) folgte ein paar Monate später. Zu stark war der Aufwertungsdruck auf den Schweizer Franken. Seit Januar 2015 liegen die Leitzinsen auch hierzulande im negativen Bereich. Oder besser gesagt: lagen. Denn am 22. September haben auch die helvetischen Währungshüter ihre Zinswende vollzogen und den Leitzins wieder in den positiven Bereich angehoben. Dieser Schritt reiht sich nahtlos ein in eine ganze Serie von Zinserhöhungen der Notenbanken rund um den Globus. Das ist grundsätzlich zu begrüssen.  

Alles im roten Bereich – Geld verdienen war (praktisch) ein Ding der Unmöglichkeit

Negativzinsen sind ein Anachronismus. Und eine riesige Umverteilungsmaschine. Denn der Zins ist letztlich ein Mass für den Wert von Geld. Ein Individuum, welches Geld verdient oder erhält, muss sich zwischen Konsum oder Sparen entscheiden. Der Anreiz zum Sparen liegt in einem positiven Zins und damit der Aussicht auf einen höheren Konsum in der Zukunft. Bei Unternehmungen spielt der Zins eine wesentliche Rolle beim Investitionsentscheid. Ist dieser doch massgebend für die Finanzierungskosten am Kapitalmarkt. Entsprechend führen Negativzinsen zu Verzerrungen in der Realwirtschaft. Schuldner werden entlastet, Sparer bestraft. Auch an den Finanzmärkten hat die Tiefzinsphase zu einer massiven Fehlallokation von Kapital und entsprechenden Vermögenspreisblasen geführt. Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass nun parallel zu den stark steigenden Zinsen fast alle Anlageklassen deutlich an Wert einbüssen.

Kursentwicklung der Hauptanlageklassen im laufenden Jahr

Quelle: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Die rekordhohe Inflation zwingt die Notenbanker aus der Deckung

Die Zinswende ist nun allerdings ziemlich abrupt ausgefallen. Noch Mitte Juni 2021 titelte beispielsweise die Neue Zürcher Zeitung (NZZ): «Negativzinsen: Für Bankkunden wird es immer enger». Der Grund: Die Freigrenzen wurden bei (fast) allen Geschäftsbanken weiter reduziert und grössere Sparguthaben mit «Verwahrgebühren» versehen. Zwar bewegten sich zu diesem Zeitpunkt die Inflationsraten weltweit bereits deutlich nach oben, das Phänomen wurde aber selbst von den Notenbankern als «temporär» abgetan. Davon spricht heute niemand mehr. Denn die Teuerungsraten sind weiter nach oben geschossen. Die anhaltenden Lieferengpässe sowie der Ukraine-Krieg haben die Inflation zusätzlich befeuert. In einigen Staaten ist diese mittlerweile auf 40-Jahres-Höchststände geklettert. Kein Wunder drehen die Notenbanken nun beherzt an der Zinsschraube.

Inflation und Leitzinsentwicklung in den USA

Quellen: Bloomberg, Raiffeisen Schweiz CIO Office

Die Höhe des Zinses hat direkte Auswirkungen auf die Bewertung von Anlagen. Bei (Staats-)Anleihen ist der Zusammenhang relativ einfach: Steigen die Zinsen, so fällt ceteris paribus der Wert einer Anleihe. Je länger die Restlaufzeit, desto stärker fällt die Korrektur aus. Vereinfacht gilt folgende Regel: Die Zinsänderung multipliziert mit der Restlaufzeit ergibt die Kursbewegung der Anleihe. Seit Jahresbeginn sind beispielsweise die Zinsen bei den 5-jährigen Eidgenossen um 150 Basispunkte gestiegen. Der Kursverlust dieser Staatsanleihe beträgt also rund 7.5% (5 x 1.5%). Auch auf die Bewertung von Aktien und Immobilien hat eine Zinsveränderung einen grossen Einfluss. Um den Wert einer solchen Anlage zu eruieren, werden die zukünftigen Gewinne bzw. Cashflows (oder im Falle von Immobilien die Mieteinnahmen) «abdiskontiert». 

Der Abzinsungsfaktor wird durch den risikolosen Zins zuzüglich einer Risikoprämie bestimmt und entspricht den sogenannten Kapitalkosten. Wie sich die unterschiedliche Höhe des Zinses auf die Bewertung auswirkt, kann an einem einfachen Beispiel illustriert werden. Angenommen der 2022 erwartete Cashflow einer Firma beträgt 20 Millionen Franken. Der Unternehmung wird zugetraut, diesen jährlich um eine ewige Wachstumsrate (g) in Höhe von 2% zu steigern. Der Diskontierungszins (r) von 4.25% wird folgendermassen festgelegt: Risikoloser Zins von -0.75% zuzüglich 5% Risikoprämie. Die Bewertungsformel für diese vereinfachte Version des sogenannten Gordon-Growth-Modells lautet: Wert = Cashflow / (r-g). Im konkreten Beispiel beträgt der «faire» Wert der Firma also 888.9 Millionen. Steigt nun der risikolose Zins von -0.75% auf +0.75% (was einer Zinserhöhung von 150 Basispunkten entspricht), reduziert sich der Wert schlagartig auf «nur» noch 533.3 Millionen. Das Unternehmen hat also rein rechnerisch 40% weniger Wert. Wie gesagt handelt es sich hierbei um ein sehr vereinfachtes Rechenbeispiel – der Mechanismus ist aber klar. Steigende Zinsen führen zu einer Bewertungskorrektur. Und eine solche erleben wir aktuell.  

Die Zinswende ist da und die Anpassungsprozesse sind kurzfristig schmerzhaft. Solange die Notenbanken weiter an der Zinsschraube drehen und an ihrer restriktiveren Geldpolitik festhalten, wird der Gegenwind für die Finanzmärkte anhalten. Die geldpolitische Kehrtwende ist ein wesentlicher Grund für unsere defensive taktische Vermögensallokation, welche wir seit Jahresanfang implementiert haben. Allerdings dürfte der Zinserhöhungszyklus spätestens im Verlaufe des kommenden Jahres zu einem Ende kommen. Langfristig ist die Zinsnormalisierung positiv. Gerade auch für Sparer. Das achte Weltwunder, der Zinseszinseffekt, wird wieder greifbar.             

Der CIO erklärt: Was heisst das für Anleger?

Die laufende Zinswende hat zu einer deutlichen Bewertungskorrektur bei sämtlichen Anlageklassen geführt. Im Aktienbereich hat es vor allem Wachstumswerte hart getroffen. Wer mit Blick in den Rückspiegel und der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zu den alten Höchstständen nun solche Werte kauft, sollte Folgendes bedenken: Nach einer Performance von -50% braucht es eine Kursverdoppelung, um die Verluste wettzumachen. 

Solange die Zinsen steigen und sich die Konjunkturaussichten weiter eintrüben, sollte der Fokus auf defensiven Sektoren wie Nahrungsmittel, Gesundheit, Versicherungen und Telekommunikation gelegt werden. In der Schweiz zählen Werte wie Roche, Novartis, Swiss Life, Zurich Insurance, Swisscom, Barry Callebaut oder Orior dazu. Die durchschnittliche Dividendenrendite der genannten Titel beträgt aktuell 3.8%. Gerade in turbulenteren Börsenphasen ist die Dividende mehr als nur die Kirsche auf der Torte.   

Matthias Geissbühler, CIO Raiffeisen Schweiz