«Eine Inflation ist eigentlich nichts Ungewöhnliches»

Die Preise steigen, das Geld ist weniger wert – die Schweiz erlebt die erste Inflation seit Jahrzehnten. Die Zeit der stabilen Preise könnte fürs Erste vorbei sein, sagt Matthias Geissbühler, Chief Investment Officer von Raiffeisen Schweiz. 

Wie ordnen Sie die Inflation 2022/23 historisch ein?

Matthias Geissbühler: Für viele Menschen in der Schweiz ist die jetzige Teuerung eine neue Erfahrung. Doch in den vergangenen 100 Jahren kam es immer wieder zu starken Preisanstiegen. Historisch gesehen waren eher die letzten 25 Jahre ungewöhnlich, weil die Preise nur geringfügig schwankten. 

Warum war Inflation nun lange Zeit kein Thema?

Ein wichtiger Faktor war die Globalisierung. Mitte der 90er-Jahre verlegten viele Unternehmen ihre Produktion nach China, weil die Löhne dort tief waren und es viele Arbeitskräfte gab. So konnten viele Güter des Alltags günstiger hergestellt und die Preise gesenkt werden. Aber auch das Internet half mit, steigende Preise zu verhindern.

Wie das?

Früher ging ich für den Computerkauf in den Elektronikladen und bezahlte den dort angeschriebenen Preis. Heute google ich zuerst, wo ich mein neues Gerät am günstigsten bekomme. Das hat bei den Händlern einen Preisdruck ausgelöst und für tiefere Preise gesorgt.

Landesindex der Konsumentenpreise – Prozentuale Veränderung zum Vorjahr

Quellen: Banque Pictet & Cie SA, Bundesamt für Statistik, Raiffeisen Schweiz Investment & Vorsorge Center

In der Vergangenheit gab es mehrere Inflationsphasen in der Schweiz. Wie haben sich die Preise jeweils wieder normalisiert?

Auf die Inflationsschübe folgten ausnahmslos Zeiten der wirtschaftlichen Abschwächung. Das sieht man deutlich an der aktuellen Entwicklung der Konsumentenpreise. Diese sind im Vergleich mit der jüngsten Historie deutlich erhöht. Starke Ausschläge zeigten sich in der Vergangenheit etwa während des zweite Weltkriegs, der zu einer starken Inflation führte. Auch die Ölpreisschocks in den 1970er-Jahren trieben die Energiepreise in die Höhe und verursachten jeweils eine deutliche Teuerung. Bei allen Beispielen rissen die Nationalbanken schliesslich das Steuer herum und führten eine restriktive Geldpolitik ein. 

«Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg könnten eine neue Phase einleiten.»

Restriktive Geldpolitik heisst: Zinsen erhöhen?

Genau. Das wichtigste Tool zur Steuerung der Geldpolitik ist der Leitzins, welcher die Zentralbanken festlegen. Wird dieser angehoben, wird Geld teurer. Dadurch steigen die Kredit- und Refinanzierungskosten der Unternehmen, was deren Investitionstätigkeit einbremst. Mit einer gewissen Verzögerung kühlt sich damit die Wirtschaftsdynamik ab und die Preise beginnen wieder zu sinken.  

Welchen Einfluss haben die Pandemie und der Krieg in der Ukraine auf die wirtschaftliche Entwicklung?

In den vergangenen 3 Jahren haben Unternehmen erfahren, wie verletzlich sie durch Probleme in den weltweiten Lieferketten sind. Wir beobachten eine Tendenz, die Globalisierung ein Stück weit rückgängig zu machen. So hatten etwa viele Unternehmen bisher nur einen Lieferanten in China. Jetzt suchen sie noch andere, zum Beispiel in Osteuropa oder Lateinamerika. Teilweise wird die Produktion sogar ganz zurückgeholt.

Wie wirkt sich das auf die Produktpreise aus?

Die Unternehmen produzieren inskünftig wohl wieder vermehrt in Ländern mit höheren Lohnkosten. Zudem müssen sie Lager aufbauen. Das verstärkt die Inflation und somit die Teuerung.

Wie kann man sich privat gegen die Teuerung wappnen?

Man kann sparen. Bei Strom, Energie und Konsumartikeln lassen sich die Ausgaben schnell spürbar verringern. Oder man versucht, beim Arbeitgeber eine Lohnerhöhung durchzusetzen. 

Wie schützt man sein Erspartes?

Indem man sein Vermögen anlegt. Unternehmensanleihen in Schweizer Franken bieten derzeit um die 2.5 Prozent Rendite. Diese liegt damit über der von uns für 2023 erwarteten Jahresteuerung von 2.3 Prozent. Im nächsten Jahr dürfte diese dann wieder in Richtung 2 Prozent sinken. Das heisst man kann mit Unternehmensanleihen die Kaufkraft erhalten.

«Kann man langfristig Geld anlegen, dann sollte in Aktien, Immobilien und Gold investiert werden. Damit sollte die Inflation mehr als kompensiert werden können.»

Lohnt es sich bei einer Inflation in die dritte Säule einzuzahlen? 

Unbedingt. Allein schon, weil man damit Steuern spart. Ab einem Anlagehorizont von zehn Jahren empfehle ich, die Gelder aus der 3. Säule in Vorsorgefonds mit einem hohen Aktienanteil anzulegen.

Arbeitnehmende in der Schweiz erhielten 2022 im Schnitt eine Lohnerhöhung von 2.5 Prozent. Die Teuerung war aber höher. Verbessert sich die Situation 2023?

Nur bedingt. Die Menschen haben unter dem Strich weniger Geld im Portemonnaie als früher, weil zum Beispiel die Krankenkassenprämien gestiegen sind.

Die Kaufkraft nimmt also ab, die Inflation bleibt: Stehen wir vor einer Rezession?

Nein, in der Schweiz dürfte eine solche knapp vermieden werden. Zwar steigen auch hierzulande die Preise und der Konsum lässt etwas nach. Aber massgebend für eine Rezession bei uns ist das Ausland. Wenn sich die Konjunktur in Europa oder den USA weiter deutlich eintrübt, wird dies auch unsere stark exportorientierte Wirtschaft tangieren. Insofern ist die Entwicklung im Ausland im Auge zu behalten und dort deutet aktuell vieles auf eine Stagnation der Wirtschaft hin.

Welche Faktoren könnten in Zukunft eine Inflation begünstigen?

Das Überaltern der Gesellschaft. Die Babyboomer gehen in Pension. Die Folge sind Fachkräftemangel und steigende Löhne. Das wiederum kann die Preise in die Höhe treiben und begünstigt die Inflation. Und dann ist da noch die Energiewende.

Was hat die Energiewende mit der Teuerung zu tun?

Wenn die Kosten für Energie steigen, erhöhen sich die Preise. Die Energiewende kostet viel Geld: Massive Investitionen sind nötig, damit erneuerbare Energien das relativ billige Erdöl und Erdgas ersetzen können. Schätzungen aus Deutschland besagen, dass die Energiewende deshalb zwischen 0.5 und 1 Prozent zusätzlicher Inflation verursachen wird bis 2050.

Was bedeuten diese Einschätzungen für die kommenden Jahre?

Die Zeit der Deflation ist vorbei. Wir müssen uns im nächsten Jahrzehnt wohl an eine strukturell höhere Teuerung gewöhnen. In der Schweiz könnte sie bei 2 Prozent liegen, in den USA und Europa gar bei 3 Prozent oder mehr. Das könnte das neue Normal werden.

Im Fokus

Trotz Inflation: Die Wirtschaft wächst 2023 – ein bisschen

Langsameres Wachstum ...

Hohe Energie- und Lebenshaltungskosten bremsen die Konjunktur in der Schweiz. Weil im Ausland die Teuerung noch höher ist und die Konsumenten den Gürtel enger schnallen, sinkt auch die Nachfrage nach Schweizer Exportprodukten. Deshalb wächst die Schweizer Wirtschaft voraussichtlich nur um 1 Prozent (2022: 1.9 Prozent).

Im Fokus

… aber keine Rezession

Der Franken bleibt stark und schwächt die Teuerung ab, die durch höhere Importpreise drohen könnte. Die Strompreise sind tiefer als befürchtet und die Löhne mussten in der Schweiz weniger stark angehoben werden um die Inflation abzufedern als in den USA oder der Eurozone.

Im Fokus

Wendepunkt in Sicht

Die Schweizerische Nationalbank (SNB) wird voraussichtlich einen weiteren Zinsschritt von 0.25 Prozentpunkten vornehmen. Damit ist der Höhepunkt erreicht und die Schweizer Wirtschaft kann dies gut verkraften. Die SNB hatte den Leitzins bis Dezember 2022 schrittweise auf 1.0 Prozent erhöht. 2024 sollte die Wirtschaft wieder stärker wachsen: Die Wirtschaftsleistung dürfte um circa 1.5 Prozent zunehmen.

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Portrait Matthias Geissbühler

Matthias Geissbühler

Chief Investment Officer Raiffeisen Schweiz

Seit Januar 2019 ist Matthias Geissbühler als Chief Investment Officer (CIO) von Raiffeisen Schweiz für die Anlagepolitik verantwortlich. Zusammen mit seinem Team analysiert er kontinuierlich die weltweiten Geschehnisse an den Finanzmärkten und entwickelt die Anlagestrategie der Bank.

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