Europa im Bann des «Lockdown 2.0»

09.11.2020

Europa im Bann des «Lockdown 2.0»

Finanz-Ecke nov

Zahlreiche Länder befinden sich in einem erneuten Lockdown. Der wirtschaftliche Schaden ist riesig. Angesichts der Unberechenbarkeit des Coronavirus dürfte die Volatilität hoch bleiben.

«Wir können jetzt Corona.» Das waren die Worte von Gesundheitsminister Alain Berset am 20. Mai diesen Jahres. Und im Sommer sah es tatsächlich so aus, als würde er Recht behalten: Die Zahl der Infektionen mit dem Coronavirus sank stetig, ein Hauch Normalität kehrte in das Leben von Herrn und Frau Schweizer zurück. Aktuell präsentiert sich die Lage jedoch weitaus weniger rosig: Die Schweiz hat sich zwischenzeitlich von einem Corona-Musterschüler in einen Hotspot in Europa verwandelt. Die Neuinfektionen lagen im Oktober im Durchschnitt bei knapp 4‘000 Menschen pro Tag – im Mai waren es rund 35. Dies allein der verstärkten Testaktivität der Kantone zuzuschreiben, wäre falsch. Besorgniserregend ist vor allem, dass zuletzt auch die Zahl der Hospitalisierungen deutlich zugenommen hat. Erste Spitäler haben bereits vor Engpässen gewarnt. Auch bei unseren Nachbarn breitet sich das Coronavirus immer mehr aus. Erste Länder haben einen «Lockdown 2.0» ausgerufen: Frankreich, Deutschland, Österreich – um nur einige zu nennen. Die Angst vor dieser Ultima Ratio im Kampf gegen das Virus beschäftigte die Anleger allerdings schon lange davor.      

Märkte reagieren einmal mehr mit Volatilität
Bei der Wahl für das Unwort des Jahres 2020 wäre der Begriff «Lockdown» wohl einer der aussichtsreichsten Kandidaten. Im vergangenen Frühjahr griffen zahlreiche Länder rund um den Globus zu diesem Mittel, um das Coronavirus einzudämmen. Die Folgen für die Weltwirtschaft waren verheerend: Allein für das laufende Jahr rechnen wir mit einem Rückgang des globalen Bruttoinlandproduktes (BIP) um 4 Prozent, in der Schweiz um 5 Prozent und in der Eurozone gar um 8 Prozent. Die Langzeitfolgen für den Arbeitsmarkt, sowie Konsum und Investitionen sind darin noch gar nicht enthalten. Ferner dürfte eine grössere Konkurswelle bevorstehen. Die damit verbundenen Kreditausfälle wären Gift für bisher relativ unbeschadet durch die Krise gekommene Wirtschaftszweige – etwa die Finanzbranche. Mit dem zuletzt wieder zunehmenden pandemischen Geschehen stieg bei den Marktteilnehmern auch die Angst vor etwaigen Lockdown-Massnahmen: So kletterte der Volatilitätsindex VIX im Oktober um 11,65 Zähler auf 38,02 Punkte. Sein hiesiges Pendant der VSMI verzeichnete ein Plus von 8,21 Punkten und notiert aktuell knapp unter der 30er Marke. Die Unsicherheit materialisierte sich zusätzlich in den Kursverläufen: Der S&P 500 büsste in Schweizer Franken gerechnet im Oktober rund 3,2 Prozent seines Wertes ein, beim deutlich zyklischeren Dax stand gar ein Minus von 10,5 Prozent. Überraschend schwach präsentierte sich auch der Schweizer Heimmarkt (-5,9 Prozent).

Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown?
Die aktuellen Lockdowns treffen die Wirtschaft zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Erholte sich die Konjunktur über den Sommer langsam wieder, so gleicht die wiederholte Schliessung zahlreicher Branchen in Verbindung mit Ausgangsbeschränkungen einem Schlag ins Genick. Besonders hart trifft es den Detailhandel und einmal mehr Gastronomie sowie Tourismus: Hier fallen die Restriktionen auf die umsatzstarke Vorweihnachtszeit. Die Regierungen versprechen den betroffenen Branchen umfangreiche finanzielle Unterstützungen. Aber angesichts der immensen öffentlichen und privaten Schuldenberge dürfte dies nur ein Tropfen auf den heissen Stein sein. Zudem droht Europa in einer Lockdown-Spirale zu versinken: Die Corona-Fallzahlen dürften auf absehbare Zeit abnehmen, das anschliessende Herauffahren des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens würde aber – ohne wirksamen Impfstoff/Medikament – wohl wieder in steigenden Infektionen münden. Aus heutiger Sicht müsste dann vielerorts mit einem «Lockdown 3.0» gerechnet werden.

Die weitere Entwicklung in der Corona-Pandemie ist kaum absehbar, die Volatilität an den Börsen dürfte somit hoch bleiben. Wir haben uns daher taktisch nochmals etwas defensiver positioniert. Anlegern raten wir aber generell, sich nicht verunsichern zu lassen, sondern an der langfristigen Investmentstrategie festzuhalten.

Marcel Crameri
Leiter Anlageberatung Raiffeisenbank Siggenthal-Würenlingen