Keine Entwarnung: Lieferkettensituation bleibt schwierig

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Konjunktur, Konflikte und Klima prägen die globalen Lieferketten – auch im laufenden Jahr. Die Situation bleibe angespannt, sagt Raiffeisen-Makroökonom Domagoj Arapovic. Preise zum Beispiel sind immer noch höher als vor der Pandemie. Es gibt aber Anzeichen für eine langsame Erholung.

 

Bleibt die globale Lieferkettensituation 2023 weiter angespannt?

Domagoj Arapovic: Ja. Allerdings ist die Situation nicht mehr so schlimm wie letztes Jahr. Der Anteil der Unternehmen, die stark unter Lieferschwierigkeiten leiden, hat sich mittlerweile deutlich reduziert. Aber die Lage hat sich noch nicht normalisiert.

 

Wo bestehen weiterhin Engpässe?

D.A.: Grundsätzlich ist es ein gesamtwirtschaftliches Problem, ein weit verbreiteter Mangel an Vorprodukten, der sehr viele Güter und Branchen betrifft. Nach wie vor akut ist die Situation bei Halbleitern, insbesondere bei komplexen Mikrochips. Das trifft unter anderem Hersteller von Autos, Computern oder Medizintechnik.

 

Was sind die Gründe dafür?

D.A.: Das Problem war nie die Lieferketten-Infrastruktur, denn die hat meist wie vorgesehen funktioniert. Der Grund für die Engpässe war vielmehr die wegen der Pandemie immens gestiegene Warennachfrage. Der «Peitscheneffekt» hat die Engpässe dann nochmals verschärft: Wenn der Endkunde plötzlich mehr beim Lieferanten bestellt, wird dieser bei seinen Zulieferern ebenfalls mehr bestellen – aber überproportional viel, zum Beispiel weil er anhaltend hohe Aufträge erwartet und vorbereitet sein will. So schaukelt sich ein Anstieg der Endnachfrage entlang der Lieferkette immer mehr auf. Bei den Halbleitern kommen noch politische Spannungen zwischen China und den USA hinzu; sowie die Tatsache, dass die Produktion sehr komplex und kapitalintensiv ist und nicht auf die Schnelle ausgebaut werden kann. 

 

Gibt es auch Anzeichen für Entspannung? 

D.A.: Ja. Preise sind ein guter Indikator dafür: Aktuell sehen wir bei vielen Produkten wieder sinkende Preise. Das ist ein Zeichen, dass sich die Lieferketten erholen. Es ist aber zu früh, um Entwarnung zu geben: Denn die Produkte sind zwar wieder besser verfügbar und werden schneller geliefert, aber sie kosten vielfach immer noch mehr als vor der Pandemie. Im Bausektor sind die Materialpreise zum Beispiel immer noch sehr hoch. Trotzdem: Die Situation entspannt sich etwas.

 

«Es ist zu früh, um Entwarnung zu geben, denn wir sind längst nicht dort, wo wir vor der Pandemie waren.»

Domagoj Arapovic, Makroökonom Raiffeisen

 

Womit hängt das zusammen?

D.A.: Der wichtigste Faktor ist die globale Konjunkturabkühlung, die wir im laufenden Jahr erwarten. Denn wenn die Nachfrage generell zurückgeht, werden auch die Lieferketten weniger strapaziert. Für Unternehmen ist das allerdings ein schwacher Trost.

 

Sind alle Branchen gleich betroffen?

D.A.: Bei einigen Rohstoffen wie Holz oder Metallen sind bereits jetzt keine ausgeprägten Lieferverzögerungen mehr festzustellen. Wenn sich die globale Güternachfrage wie erwartet weiter abkühlt, wird sich die Lieferkettensituation weiter verbessern. Das gilt insbesondere für konjunktursensitiven Branchen, zum Beispiel den Bausektor oder die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. Wegen der steigenden Zinsen schwächeln die Immobilienmärkte und es wird weniger gebaut. Unternehmen investieren nur zurückhaltend, also werden weniger Maschinen gekauft. Beides hat positive Auswirkungen auf die Lieferkettensituation bei Baustoffen und Metallen. Allerdings braucht die Erholung Zeit. 

 

«Dass wir wieder zum extremen Just-in-time-Modus zurückkehren werden wie vor der Pandemie, glaube ich nicht.»

Domagoj Arapovic, Makroökonom Raiffeisen

 

Gibt es auch Szenarien, die diesen Entspannungskurs wieder umkehren und die Lieferketten erneut strapazieren könnten?

D.A.: Ja. Ich denke da zum Beispiel an die Auswirkungen des Klimawandels. Wenn wegen anhaltender Trockenheit die Wasserstände des Rheins und anderer grosser Flüsse sinken, die Schifffahrt und damit der Warentransport eingeschränkt sind, steht auch die Schweizer Wirtschaft vor grossen Herausforderungen. Gefahr droht auch von mehr oder weniger wahrscheinlichen Einzelereignissen, die grosse Auswirkungen hätten: neue bewaffnete Konflikte zum Beispiel, Sabotage von Pipelines, Cyberattacken auf die Logistik-Infrastruktur oder auch ein erneutes Aufflammen der Pandemie.

 

Halten Unternehmen in dieser Situation an den Massnahmen zur Stabilisierung der Lieferketten fest, also zum Beispiel an grossen Lagern?

D.A.: Derzeit sind die Lager fast unverändert hoch. Es gibt aber Anzeichen, dass die Bestände nicht mehr weiter wachsen oder sogar leicht sinken. Betriebswirtschaftlich ergibt es ja auch wenig Sinn, die Bestände permanent hoch zu halten – das kostet schlicht zu viel. Dass wir aber wieder zum extremen «Just-in-time»-Modus zurückkehren werden wie vor der Pandemie, glaube ich allerdings auch nicht.

 

Lieferkettenproblematik 2023: Ausblick und Risiken

  • Die Lieferengpässe sind nicht mehr so akut. Die Preise vieler Rohstoffe sind aber nach wie vor deutlich höher als vor der Pandemie.
  • Die globale Konjunkturabschwächung dürfte zu einer weiteren Entspannung der Lieferkettenproblematik beitragen. Wenn die Nachfrage generell sinkt, sind Vorprodukte und Rohstoffe leichter verfügbar.
  • Auch die Lieferketten spüren den Klimawandel: Trockenheitsperioden können die Binnenschifffahrt einschränken und zu Versorgungsschwierigkeiten führen.
  • Käme es zu einem Wiederaufflammen der Pandemie, zum Beispiel in China, wo die Null-Covid-Politik aufgehoben wurde, dürften sich Lieferkettenprobleme erneut akzentuierten.
  • Taiwan ist ein Hotspot der Halbleiter-Industrie. Ein bewaffneter Konflikt um die Insel hätte schwerwiegende globale Folgen für die Lieferketten.
  • Auch Angriffe auf die Infrastruktur können Lieferketten unterbrechen – zum Beispiel Cyberattacken auf Handelshäfen oder Pipeline-Sabotage.
Domagoj Arapovic
Domagoj Arapovic

Domagoj Arapovic ist seit 2013 als Senior Economist bei Raiffeisen Schweiz tätig. Er hat an der Universität Zürich Volkswirtschaft studiert und arbeitete anschliessend von 2007 bis 2012 bei der Schweizerischen Nationalbank im Economic Research und im Risikomanagement. Seit 2011 hält er das Chartered Financial Analyst-Diplom.