«Derzeit besteht wenig Spielraum für Zinssenkungen»

Während sich die Aktienmärkte neuen Höchstständen nähern, steht Raiffeisen Anlagechef Matthias Geissbühler bewusst auf die Euphoriebremse. Für 2024 zeichnet sich ein volatiler Konjunkturverlauf ab – inklusive Rezession. Umso mehr braucht es jetzt eine aktive Taktik.

Interview mit Matthias Geissbühler, Chief Investment Officer Raiffeisen Schweiz

Interview: Roberto Stefano
NZZ am Sonntag vom 24. Dezember 2023

Nach einem Einbruch im Sommer haben sich die Aktienmärkte seit Ende Oktober wieder kräftig erholt. Der MSCI World Index erreichte sogar einen Jahreshöchststand. Wie erklären Sie das?

Matthias Geissbühler: Dazu genügt ein Blick auf die Zinsen: Eine US-Staatsanleihe mit zehnjähriger Laufzeit brachte Mitte Juli eine Rendite von 3,8 Prozent. Diese kletterte bis Ende Oktober kurzzeitig auf über 5 Prozent. Der Zinsanstieg hatte eine Korrektur bei risikoreicheren Anlageklassen wie Aktien zur Folge. Mittlerweile sind die Zinsen wieder unter 4 Prozent gefallen. Dies hat die Märkte befeuert.

Woher kommt dieses Auf und Ab? 

Die Hoffnung auf baldige Zinssenkungen der Zentralbanken treibt die Märkte an. Noch im Herbst haben sich diese – zumindest rhetorisch – dagegengestemmt. Inzwischen hat sich die Inflation weltweit abgeschwächt, was eine Senkung wahrscheinlicher macht.

Was denken Sie?

Wir sind der Meinung, dass die Leitzinsen zwar ihren Höchststand erreicht haben, der Optimismus der Märkte aber zu gross ist. Derzeit preisen die Zins-Futures in den USA per Ende 2024 einen Leitzins von 4 Prozent ein, was einem Zinsrückgang von 1,5 Prozent entspricht. Die Fed müsste bis Ende 2024 also sechs Leitzinssenkungen um jeweils 0,25 Prozentpunkte vornehmen. Wir rechnen aktuell mit deren drei. Die Diskrepanz zu den Markterwartungen ist hoch. Zwar ist die Inflation in den USA im November auf 3,1 Prozent gesunken, dies jedoch hauptsächlich wegen Basiseffekten sowie tieferen Energie- und Nahrungsmittelpreisen. Die Kerninflation belief sich wie bereits im Oktober auf 4 Prozent. Auch in der Eurozone notiert diese mit 3,6 Prozent noch weit weg von den Zielwerten. Insgesamt besteht derzeit wenig Spielraum für Zinssenkungen.

Wann wird es so weit sein?

Wir erwarten im kommenden Sommer einen ersten, moderaten Zinsschritt. Bis Ende 2024 dürften die Europäische Zentralbank und die US-Notenbank Fed insgesamt je drei Senkungen vornehmen, die Schweizerische Nationalbank eine.

Alles in allem scheint ein Soft Landing aber in Griffweite?
Naja, eine konjunkturelle Eintrübung ist klar ersichtlich. Deutschland beispielsweise steckt bereits in einer Rezession und die Volkswirtschaften in der Eurozone und in Japan sind im dritten Quartal ebenfalls geschrumpft. Auch China zeigt ein schwaches Wachstum. Die grosse Ausnahme sind bisher die USA.

Weshalb? 
Die amerikanischen Konsumentinnen und Konsumenten profitierten von den Überschussersparnissen aus der Corona-Pandemie - insgesamt 2 Billionen Dollar. Entsprechend sind die Konsumausgaben trotz der hohen Inflation konstant hoch geblieben. Dies hat die US-Wirtschaft gestützt. Bis Ende Jahr sind diese Mittel allerdings weitestgehend aufgebraucht, weshalb es auch in den USA zu einer Konjunkturabkühlung kommen dürfte.

Wie beurteilen Sie das Anlagejahr 2023?
Es war geprägt von starken Schwankungen. Nach dem «annus horribilis» 2022 war es aber ein Jahr der Stabilisierung. Mit Ausnahme von Schwellenländeraktien, die wegen China und Hongkong leicht im Minus liegen, notieren sämtliche Anlageklassen im Plus. Eine ausgewogene Strategie in Schweizer Franken hat gut 4 Prozent Rendite gebracht, was leicht über dem langfristigen Durchschnitt liegt.

Die geopolitischen Risiken scheinen derzeit von den Anlegern ausgeblendet zu werden. Zu Recht?
Der Ausbruch des Kriegs im Nahen Osten hat den Gold- und den Ölpreis kurzfristig in die Höhe getrieben. Befürchtet wurde ein Flächenbrand in der Region, der glücklicherweise ausblieb. Allerdings sollten Anlegerinnen und Anleger das Thema im Auge behalten. Die geopolitischen Spannungen haben in den letzten Jahren zugenommen. Als Folge davon ist eine Tendenz zur Deglobalisierung sowie ein weltweites Aufrüsten auszumachen. Beides kann zu einer strukturell steigenden Inflation und zu erhöhten Marktschwankungen führen.

Werfen wir einen Blick auf das kommende Jahr. Wie sieht Ihr Konjunkturszenario aus?
Es ist Vorsicht angebracht. Die markanten Zinserhöhungen machen sich in der Wirtschaft zwar erst schleichend bemerkbar, ihre Bremswirkung wird aber weiter zunehmen. Dies kann zu Kollateralschäden führen, wie wir sie 2023 bei der Regionalbankenkrise in den USA oder bei der Insolvenz der Signa-Gruppe um René Benko gesehen haben. Auch am Arbeitsmarkt zeigen sich erste Anzeichen einer Abkühlung. Die Landung dürfte deshalb holpriger werden als sie vom Markt erwartet wird.

Wie werden die Jahresergebnisse der Unternehmen ausfallen?
Das Bild trübt sich ein. Bis zur Jahresmitte waren die Firmen gut unterwegs und die Halbjahresergebnisse sind insgesamt recht solide ausgefallen. Bei vielen Industrieunternehmen ist aber ein deutlicher Rückgang bei den Bestellungseingängen feststellbar. Es fehlen neue Aufträge. Dies wird sich mit etwas Verzögerung auf die Umsatzentwicklung auswirken.

 

«Das Jahr 2024 wird von Zinshoffnungen und Wirtschaftssorgen geprägt sein.»

 

Müssen wir uns auf negative Überraschungen einstellen?
Dies hängt stark vom jeweiligen Sektor ab. Zuletzt haben innerhalb einer Woche gleich vier an der SIX kotierte Firmen Gewinnwarnungen ausgegeben. Die Tendenz scheint klar: Bei den Jahresabschlüssen und im ersten Quartal 2024 dürfte es die eine oder andere Enttäuschung geben, vor allem bei zyklischen Werten aus der Industrie-, Bau- oder Chemiebranche.

Und wie geht es 2024 an den Finanzmärkten weiter?
Die hohe Volatilität dürfte – namentlich auf der Zinsseite – anhalten. Das Jahr 2024 wird von Zinshoffnungen und Wirtschaftssorgen geprägt sein. Nur mit passiven Anlagen und einem klassischen «buy and hold»-Ansatz wird man kaum erfolgreich sein. Es braucht eine aktive Anlagetaktik, um Opportunitäten zu nutzen und auch einmal Gewinne mitzunehmen.

In welchen Anlageklassen sehen Sie das grösste Potenzial?
Entscheidend ist das Timing. Wir haben 2023 die Obligationenquote laufend erhöht, weil die Renditen auf äusserst attraktive Niveaus geklettert waren. Das hat sich bewährt. In den letzten Wochen sind die Zinsen zwar wieder gesunken, Obligationen gehören aber auch 2024 in ein Portfolio. Unser Fokus liegt dabei auf qualitativ soliden Investment-Grade-Anleihen mit kurzen bis mittleren Laufzeiten. Bei den Aktien favorisieren wir im ersten Halbjahr Unternehmen aus defensiven Sektoren wie Gesundheit, Nahrungsmittel, Telekommunikation oder Versorger. Entsprechend präferieren wir den Schweizer Aktienmarkt, der von solchen Titeln geprägt ist. Hinzu kommt eine Dividendenrendite von über 3 Prozent.

Und im zweiten Semester?
Sollte sich unser Konjunkturszenario bestätigen, ist im ersten Halbjahr mit Kursrückschlägen bei den Zyklikern zu rechnen. Damit könnte sich im Verlauf der zweiten Jahreshälfte eine Sektorrotation aufdrängen. Eine solche dürfte durch sinkende Zinsen und eine expansivere Geldpolitik unterstützt werden.

Was halten Sie von Immobilien?
Schweizer Immobilienfonds sind als Beimischung in einem Portfolio interessant, weil die Agios – also die Kursaufschläge der Fonds gegenüber dem Net Asset Value – in den vergangenen 24 Monaten auf historisch attraktive Niveaus gefallen sind. Zudem haben die Hypothekarzinsen wohl ihren Höhepunkt erreicht und grössere Preiskorrekturen am Immobilienmarkt dürften ausbleiben.

Fehlt noch Ihre Einschätzung zu Gold und Währungen. 
Gold bleibt vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und geopolitischen Unsicherheiten als Beimischung attraktiv. In unseren Portfolios liegt die Quote aktuell bei 7 Prozent. Was die Währungen betrifft, so erwarten wir eine anhaltende Stärke des Schweizer Frankens, allein schon wegen des stabilen Haushalts, der geringen Verschuldung sowie der verhältnismässig tiefen Inflation.

2024 scheint ein anspruchsvolles Jahr zu werden. Sollte man sein Portfolio derzeit etwas genauer unter die Lupe nehmen?
Mindestens einmal im Jahr macht eine akkurate Portfolioanalyse Sinn. Dabei wird das Anlegerprofil der Investorinnen und Investoren auf allfällige Veränderungen überprüft. Wichtig ist auch zu kontrollieren, ob das Portfolio genügend breit diversifiziert ist oder ob Klumpenrisiken bestehen. Wenn ein einzelner Sektor - wie 2023 die Technologiebranche - besonders gut performt hat, ist die Gewichtung möglicherweise zu hoch geworden. Dann könnte es sich lohnen, ein Rebalancing vorzunehmen und antizyklisch einen Teil der Gewinne zu realisieren.

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