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Chancen und Risiken für Schweizer KMU: «Bürokratie ist innovationshemmend»

Die Schweiz gehört zu den innovativsten Nationen. Doch Bürokratie und Fachkräftemangel setzen dem Forschungs- und Werkplatz Schweiz zu. Im Interview schätzt Philippe Obrist, Leiter Firmenkunden bei Raiffeisen Schweiz, die aktuellen Chancen und Risiken für Schweizer KMU ein.

05.12.2025

Raiffeisen KI-Talk mit Philippe Obrist

Herr Obrist, wie steht es derzeit um den Forschungs- und Werkplatz Schweiz?

Die Schweiz ist eine der innovativsten Nationen weltweit – das lässt sich an der Anzahl Patente in Relation zur Bevölkerungsgrösse ablesen. Eine breit gefächerte Industrie, ein starker Mittelstand und die typischen Schweizer Tugenden wie Qualität, Leistungsfähigkeit und Präzision bilden das Fundament des Werkplatzes Schweiz. Doch möglich ist die hohe Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz erst dank des dualen Bildungssystems und der Spitzenhochschulen.

 

Welche Chancen tun sich Schweizer Unternehmen derzeit auf, etwa in punkto Digitalisierung, künstlicher Intelligenz oder Standortattraktivität?

Die Digitalisierung verschafft Schweizer Unternehmen noch mehr Innovationskraft. Ein Beispiel aus der Bauwirtschaft: Dank BIM (Building Information Modeling) lässt sich die Planung und Ausführung eines Bauprojekts optimieren, etwa die Baustatik oder Raumausnützung. Künstliche Intelligenz ist noch in der «Hype-Phase» und wird künftig zeigen müssen, was sie konkret kann. Doch eines ist klar: Wie die Digitalisierung wird auch KI die Arbeits- und Berufswelt beeinflussen, Arbeitskräfte jedoch nicht einfach ersetzen – im Gegenteil. So rechnen gemäss Chancenreport 2025 viele Unternehmen mit Neueinstellungen im KI-Bereich. Der Schweiz fehlen ja Fachkräfte: Die Boomer-Generation geht in Rente, und es hat zu wenige Fachleute, um diese Lücke schliessen. 

Philippe Obrist
«KI wird die Arbeitswelt beeinflussen, Arbeitskräfte aber nicht ersetzen.»

Philippe Obrist

Leiter Firmenkunden bei Raiffeisen Schweiz

Fachkräftemangel ist eindeutig ein Risiko für Schweizer KMU. Mit welchen anderen Risiken sind sie konfrontiert?

Die Bürokratie ist meines Erachtens die grösste Bedrohung für KMU, weil sie nicht die Ressourcen haben, sich um die zahlreichen Regulatorien zu kümmern. Man will alles zentralisieren, vereinheitlichen, absichern – das ist insbesondere für KMU innovationshemmend, ja erstickend. Dann der starke Schweizer Franken: Er ist für viele Unternehmen ein Risiko, vor allem für exportierende Branchen (Export Risiko). Sie sind immer mehr gefordert, Kosten zu sparen, um global mithalten zu können. Doch grundsätzlich bringt die Globalisierung Vorteile. Gute Beispiele sind China und Indien, die es dank der Öffnung ihrer Märkte geschafft haben, grosse Teile der Bevölkerung aus der Armut zu holen. Weltweite Freihandelsabkommen sind wertvermehrend für alle.

 

Dem gegenüber stehen Zölle, die unter Donald Trump wieder Thema sind. 

Zölle und Tarife werden heute als Machtinstrument eingesetzt, um eigene Interessen durchsetzen. Tarife sind auch eine Form des Protektionismus. Die Situation gleicht dem Gefangenen-Dilemma: Der eine profitiert vielleicht, alle anderen aber nicht – und Eigennutz kann zum Bumerang werden.

 

Welchen Ruf hat die Schweiz im internationalen Markt?

Schweizer Qualität und das Label «swissmade» sind auf dem internationalen Markt unglaublich viel wert. Hinzu kommt die hohe Standortattraktivität der Schweiz. Die rechtliche, wirtschaftliche und politische Stabilität, die leistungsbereite Bevölkerung und die hohe Lebensqualität ziehen Firmen an – das zeigt auch der Chancenreport 2025, in dem sich 200 CEOs zum Standort Schweiz äussern.

KMU sind das Rückgrat der Schweizer Wirtschaft

99,7 % der Schweizer Firmen sind KMU mit maximal 249 Beschäftigten. Sie stellen zwei Drittel aller Arbeitsplätze. Rund 77 % der KMU sind im Tertiärsektor tätig (Dienstleistungen), rund 15 % im Sekundärsektor (Industrie, Baugewerbe) und der Rest im Primärsektor (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei). KMU sind wichtige Zulieferer für Grossunternehmen, etwa der Pharma-Industrie.

Sie sagten, ein Grund für die hohe Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz sei das duale Bildungssystem. Weshalb muss es verteidigt werden?

Das duale Bildungssystem trägt wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz bei – doch auch es ist dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Einer der Gründe ist die hohe Migration etwa aus Deutschland oder Frankreich, wo das Abitur – die gymnasiale Maturität – einen höheren Stellenwert hat als die Berufslehre. In vielen Ländern gilt ein Studium als bessere Wahl, und die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems ist nicht überall bekannt. Doch am Ende des Tages muss die Arbeit nicht nur gedacht, sondern auch gemacht werden. Meines Erachtens ist eine Berufslehre mindestens so gut wie ein Studium. Wer im dualen Bildungssystem gross wird, hat später als Unternehmerin oder Unternehmer einen Vorteil: Diese Leute kennen ihre Branche von der Pike auf. 

 

Welche Rolle spielen Hochschulen im Forschungs- und Werkplatz Schweiz?

Im Umfeld von Spitzenhochschulen bilden sich immer Cluster mit Industrien, welche Forschung in Entwicklung umsetzen. So entstehen Biotope für Ideen und Innovation – man denke an das berühmte Silicon Valley rund um die Stanford University im kalifornischen Palo Alto. Auch in der Schweiz finden sich solche Cluster. Beim EPFL in Lausanne entstand zum Beispiel das «Trust Valley» mit weltweit führender Expertise im Bereich digitaler Sicherheit und Cybersecurity. Ein anderes Beispiel ist der Bio-Technopark in Schlieren, ein Life-Science-Cluster mit zahlreichen Spin-off-Unternehmen der ETH Zürich. 

 

In welchen Bereichen liegt derzeit der grösste «Innovationsfokus»?

Die Schweiz bringt in allen möglichen Bereichen innovative Entwicklungen hervor, von der Hirnforschung bis zur Raumfahrt. In der Romandie etwa wird an Sensoren geforscht, mit deren Hilfe Gelähmte ihre Muskulatur bewegen können, und in der Deutschschweiz werden die entsprechenden Geräte gebaut. Oder: An der Uni Zürich ist der «Space Hub» entstanden, wo Koryphäen aus aller Welt medizinische Anwendungen für die Luft- und Raumfahrt erforschen.

 

Die Industrie hat in den letzten Jahrzehnten aus Kostengründen viele Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Setzt sich diese Entwicklung fort?

Aus Sicht der Unternehmen ist eine Auslagerung dort sinnvoll, wo die Lohnkosten einen grossen Teil der Produktionskosten darstellen, also in der Massenproduktion. Bei wertschöpfungsreichen Produkten und Dienstleistungen machen die Lohnkosten einen kleineren Anteil an den Gesamtkosten aus. Hier brauchen insbesondere forschungsintensive Industrien Fachleute, die über spezifisches Wissen verfügen, die Innovationen vorantreiben, Prototypen bauen und zur Serienreife überführen. Manche Industrien verlagern sogar zurück in die Schweiz, etwa aus Taiwan und China, damit wir im Krisenfall nicht plötzlich von Schlüsseltechnologien abgeschnitten sind. Es findet ein Umdenken statt: Die Schweiz will ihr «savoir faire» erhalten. 

 

Und wie sieht es mit der staatlichen Subventionierung von Industriezweigen aus?

Subventionierung ist ein Eingriff in die Marktwirtschaft. Sie verzögert den Strukturwandel und ist kein nachhaltiges Modell. Schauen wir nach Deutschland, wo die Windenergie stark subventioniert wird. Wenn die Zuschüsse wegfallen – wie es bereits bei der Elektromobilität geschehen ist –, rentiert sie nicht mehr. Ist ein Geschäftsmodell auf Subventionen aufgebaut, überlebt es langfristig nicht. Anders sieht es aus bei der Grundlagenforschung: Diese ist auf staatliche Förderung angewiesen, um zu gedeihen. Und das ist enorm wichtig, denn Forschung ist die Basis für Prosperität und internationale Wettbewerbsfähigkeit.

 

Philippe Obrist

Philippe Obrist

Leiter Firmenkunden bei Raiffeisen Schweiz

Philippe Obrist ist seit 30 Jahren in der Finanzindustrie tätig, davon war er 15 Jahre bei der UBS und fünf bei der Banque Cantonale Vaudoise in Lausanne. Seit Juli 2023 leitet er schweizweit den Bereich Firmenkunden Raiffeisen Schweiz und trägt dazu bei, die Beziehungen zu rund 220'000 Schweizer Unternehmen weiter zu stärken und auszubauen.